Ein wichtiger Kunde hatte Karl, den Leiter der hiesigen Poststelle, angeschrieben, um von seiner verzweifelten Lage zu berichten. Als der Vorsteher den Brief las, wusste er, dass er die Mission, die diese Nachricht mit sich zog, nur einem seiner Zusteller anvertrauen konnte: Daril Stahlbein. Bevor Karl, der Oberpostmeister, dem Kunden aber eine Antwort schrieb, musste er sich mit dem Postzwerg unterhalten, ob dieser auch bereit wäre, diese besondere Aufgabe zu übernehmen.
Morgens nach der Begrüßungsrunde nahm der Poststellenleiter den Zwerg zur Seite. „Daril, ich muss dich bitten, deine Tour auf unbestimmte Zeit für einen speziellen Auftrag abzugeben. Nur dich kann ich um diese Sache bitten. Ein Kunde aus der Gegend hat ständig mit „Kunden aus der Hölle“ zu kämpfen. Du bist der richtige Mann, um seinem Ärger ein Ende zu bereiten. Übernimmst du als langjähriger Postzwerg diese Angelegenheit?“, bat er den kleinen Mann mit dem schwarzen Bart. Daril setzte ein kämpferisches Lächeln auf und sagte: „Ja, Chef. Ich kümmere mich darum. Wann und wo erhalte ich die Details?“ Zufrieden erklärte Karl ihm die Lage.
Mit kurzen Worten schrieb Karl eine Nachricht auf ein Blatt Papier, das er dann sorgfältig faltete und in ein Kuvert steckte. Den Brief drückte er seinem Mitarbeiter mit gewichtiger Miene in die Hand.
„Ich mache mich auf den Weg zu dem Kunden und bringe in Erfahrung, wo ich seine schwersten Fälle aufspüren kann. Falls ich weitere Befugnisse benötige, melde ich mich bei dir.“ Mit diesen Worten begab sich Daril der freundliche Postzusteller auf den Weg zum Hofladen des Doktor Grünstaude, der am Rande eines der Nachbarorte lag.
Schnellen Fußes überquerte der Postzwerg die kleine Brücke über den Mühlbach und folgte der gepflasterten Straße, welche die Ortschaften miteinander verband. Manche Bauern lebten abseits der Dörfer, wo sie ihre Felder und das liebe Vieh versorgten. So auch der Hof des Doktor Grünstaude, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Leute preiswert mit gesunden Produkten zu versorgen, ob sie nah oder fern von ihm lebten. Deshalb verschickte der junge Mann alle möglichen Waren in Briefen und Paketen mit der Post in die weite Welt hinaus.
Wie ein verwunschenes Tor aus hohen Bäumen wirkte der Zugang zum Hofgelände des Docs, wie er bei allen in der Umgebung genannt wurde. Eine kleine Hütte diente als Verkaufsraum des Hofladens, die sich direkt hinter den Stellplätzen für die Fahrzeuge der Kunden befand. Von dort konnte man direkt zu den Gehegen des Federviehs gelangen. Hühner und Enten hatten dort ihre Ausläufe und wurden von den großen und kleinen Besuchern des Geländes gern besucht. Die Beete des riesigen etwas wild wirkenden Gartens lagen über dem gesamten Grundstück verstreut.
Der Postzwerg klopfte geräuschvoll an die offen stehende Tür des Ladens, woraufhin die kräftige Stimme eines älteren Mannes ertönte: „Kommen Sie herein und schauen Sie sich unsere Ware an!“ Daril betrat den zweigeteilten Raum und sah sich neugierig um. Der vordere Bereich war mit Kisten und Kiepen vollgestellt, die mit allerlei Obst und Gemüse befüllt waren. Dabei erkannte der Zwerg Kartoffeln, Rüben, Möhren und auch Äpfel und einige exotische Früchte, wie Bananen und Mangos. Seine große Hucke stellte der Postzwerg neben der Tür ab, um nicht irgendwo dagegen zu stoßen.
Der Mann, der die Begrüßung ausgesprochen hatte, stand hinter einem schweren Holztresen, auf dem eine mechanische Kasse und eine Standwaage den meisten Platz einnahmen. Der Rest des linken Teils des Verkaufsraumes wurde von Regalen eingenommen, in denen frische Eier, Einmachgläser, Marmelade und andere verarbeitete Produkte des Hofes angeboten wurden. Der kurze graue Bart und die blaue Schürze des Herrn wirkten auf Daril vom ersten Blick an sympathisch. „Kann ich Ihnen helfen, Herr Zwerg?“, erkundigte sich der Alte pflichtbewusst bei dem Postmann. Der kleinere Mann mit dem schwarzen Vollbart räusperte sich kurz und antwortete ohne Umschweife: „Ich bin im Auftrag der Postdirektion hergekommen, um mich um die Probleme mit Ihren Versandkunden zu kümmern.“ Der Alte nickte. „Mein Sohn kümmert sich um die Kundschaft von außerhalb und den Versand. Ich bin Werner. Mittlerweile habe ich die Leitung der Geschäfte an meinen Jungen abgegeben, aber den Laden betreue ich, solange ich es noch kann.“, gab er mit großem Stolz bekannt und ergänzte: „Ihr müsst nur dem Hauptweg folgen, dann kommt Ihr zu unserem Wohnhaus. Im Nebengebäude rechts davon befindet sich das Büro. Dort werdet Ihr den Doc finden.“
Daril bedankte sich, indem er seinen Hut zog und winkte. Dann nahm er den Tragekorb wieder auf und machte sich auf den Weg, den Betreiber des Hofes aufzusuchen.
Ohne Mühen und Umwege gelangte der Zwerg zu den Gebäuden und sah sich zuerst um. Das große Bauernhaus, dessen schwere Holztür einladend einen Spalt breit geöffnet war, nahm gemütlich die Ostseite des gepflasterten Platzes ein, in den der Weg gemündet hatte. Auf der linken Seite wurde der Hof von einem ausladenden Stallgebäude begrenzt, aus dem es grunzte, muhte und wieherte. Rechts befand sich ein lang gestrecktes aus Bruchsteinen gemauertes Haus mit zwei Eingängen. Aus dem Schornstein stieg langsam weißer Rauch in die Höhe, während es aus einem der zwei Fenster dampfte. Leise Musik, die aus dem vorderen Gebäudeteil kam, umspielte sanft die Ohren des Postzwerges, während er ohne zu zögern an die Tür klopfte.
Drinnen polterte es hölzern und eine Stimme schimpfte kurz, ehe die Tür aufgezogen wurde und ein Mann Mitte dreißig vor dem Postbediensteten erschien. „Sie müssen der Doc sein. Ich bin Daril Stahlbein und im Auftrag der Postdirektion hier, um ihre Angelegenheiten zu klären. Der Inhalt Ihres Anschreibens ist mir bekannt.“, stellte der Zwerg sich vor und begründete seine Anwesenheit. Aus dem Fenster links von ihm schaute eine ältere Frau aus dem Nebel und lächelte gütig. „Jochen, geht es um deine Lieblingskunden?“, fragte sie in einem belustigten Ton. Der junge Mann mit den wuscheligen Haaren kratzte sich am Kopf und entgegnete: „Ja, Mutter. Anscheinend soll mir dieser Zwerg dabei helfen, sie in die Schranken zu weisen.“ Der Postzwerg sah sich bestätigt und hielt dem Doc seine Hand entgegen, welche der junge Mann freundlich schüttelte. „Setzten wir uns.“, sagte er und bot mit der rechten Hand seinem Besuch einen lederbezogenen Stuhl an, der auf der anderen Seite eines sehr beladenen Schreibtisches stand. Seinen Stuhl, denn er beim Aufstehen umgeworfen hatte, hob er mühsam auf und nahm dann ebenfalls Platz.
„Gut, dass Sie mit meinem Anliegen bereits vertraut sind, Herr Stahlbein. Mir wachsen die unberechtigten Beschwerden mancher Versandkunden allmählich über den Kopf. All diese Briefe hier sind voller hanebüchenen Forderungen, an denen ich keine Schuld trage. Die Kunden sehen das aber anders. Ich hoffe, dass Sie mir damit helfen können.“, beschrieb der Doc seine Probleme, wobei er einen Stapel Umschläge in die eine Hand nahm, während er in der anderen seine Brille hielt. Daril nickte zuversichtlich, dann machte er dem hochgewachsenen Menschen einen Vorschlag: „Erzählt mir bitte von den Vorkommnissen. Ich mache mir dazu Notizen und werde in nächster Zeit die Leute nacheinander aufsuchen und zur Rede stellen. Ich benötige also zu jedem einzelnen Fall Name und Anschrift der unzufriedenen Kundschaft.“ Aus der Brusttasche seiner Jacke zog er einen Schreibstift, einen Schreibblock holte er aus der Beintasche seiner Zustellerhose und machte sich bereit, mitzuschreiben.
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