Der junge Mann sprang elegant von dem Fischerboot ins Wasser und schwamm auf die felsige Insel zu. Ein verrottender Steg ragte in das Meer hinein, nahe dem der sonnengebräunte, dunkelhaarige Mann den steinigen Strand erreichte und zwischen spärlich wachsenden Gräsern den Trampelpfad hinauf ging. Die Reste des Steges lagen vom Wetter bleich geworden zwischen den Steinen. Eine alte Frau mit langem weißen Haar und runzeliger Haut, gekleidet in einem bunten Wickelrock und einem grünen Oberteil aus grobem Stoff, kam dem Mann entgegen und grüßte ihn. „Willkommen, Herr. Ich habe Euch erwartet. Folgt mir ins Dorf.“, sprach sie und machte kehrt. Er ging ihr wortlos hinterher, doch sie schnatterte vor sich hin. „Lange hatten wir keinen Besuch mehr auf unserer Insel. Wir fürchteten, vergessen worden zu sein. Dann sah einer der Dorfbewohner das Boot und mir war klar, dass der Tag gekommen ist, den wir schon seit Jahren erwarten.“ Mit Stroh gedeckte runde Hütten kamen in Sicht. Sie standen im Kreis um eine zentrale Feuerstelle, neben der eine Art steinernes Totem mannshoch aus dem Boden ragte. Kinder, Frauen und Männer waren auf dem Dorfplatz mit ihren täglichen Dingen beschäftigt. Über dem Feuer hing ein großer Suppenkessel, aus dem ein angenehmer Duft strömte.
Als sie gemeinsam an die Feuerstelle traten, verbeugte sich die Greisin vor dem Totem, dann erhob sie ihre Stimme an die Leute gerichtet. „Er ist angekommen! Er wird seinen Leuten von uns erzählen, wenn er uns wieder verlassen hat. Bis dahin wollen wir ihn auf das Herzlichste willkommen heißen.“, tat sie den Bewohnern kund. Einige ließen ihre Arbeit ruhen, andere setzten ihr Tun fort, aber ihre Blicke blieben auf dem Besucher ruhen.
Er fasste Mut, sich an die Menschen des Dorfes zu wenden: „Mein Name ist Tapo. Ich bin nur ein Fischer. Eure Insel habe ich heute zufällig entdeckt und beschlossen, sie zu erkunden.“ Unsicher lächelte er in die Runde und sah dabei in freundliche Gesichter. Die alte Frau bot ihm einen Platz am Feuer an, ein Mann brachte Suppenschalen aus schlichter Keramik und hölzerne Löffel zu ihnen. Aus dem großen Kessel schöpfte er mit einer großen Kelle Suppe in die Schalen und reichte eine davon dem Gast, eine zweite der Alten. „Dies ist die Insel Galat. Mich nennen die Bewohner Yaya, ihre Mutter. Ich bin die Letzte meiner Generation, die einst dieses Eiland besiedelte. Wir führen ein einfaches Leben, doch es genügt uns.“, stellte sie sich endlich vor. Dennoch blieb in Tapo ein unbestimmtes Gefühl zurück, dass Yaya vorsichtig mit dem war, was sie preisgab.
Der junge Mann kostete von der Suppe, die ihn überraschte. Ihr süßlich-würziger Geschmack bestätigte den köstlichen Duft, den sie von sich gab. Mit der Einnahme des Mahls stahl er sich für einen Moment aus der Unterhaltung, was ihn Zeit zum Nachdenken ließ.
Die Insel war plötzlich aus einem dichten Nebel gespuckt worden, der das Morgengrauen in die Länge gezogen hatte. Noch in der sternenbeschienenen Nacht hatte Tapo sich an den Strand begeben und sein Boot bestiegen, damit er zum Sonnenaufgang bei den Fischgründen sein Netz aufwerfen konnte. Doch mit dem Wechsel zum Zwielicht der Dämmerung stieg auch der undurchdringliche Nebel aus dem Wasser empor. Als die Sonne den Nebel verdampft hatte, stand mit einem Mal der große Felsen vor ihm im Meer. Seine Neugier trieb ihn zur Insel hin und nun saß er hier mit ihren Bewohnern beim Essen. Der Fischer rang noch mit sich, ob er ihnen berichten sollte, wie er hierher gefunden hatte, als Yaya ihre Schale neben sich abstellte und ihre Worte sich mit seinen Gedanken vermischten. „Wir, die hier leben, können die Insel nicht verlassen, denn die Erdgeister binden uns hier. Einmal in jeder Generation lichtet sich der Schleier um uns für einen Tag und ermöglicht den Zugang von außerhalb. Als die Sonne aufging, bemerkten wir sofort, dass heute ein solcher Tag ist. Vielleicht liegt es in deiner Macht, uns dem Vergessen zu entreißen und die Erdgeister zu beschwichtigen. Uns ist das bisher nicht gelungen.“ Dann verstummte die Stimme Yayas in seinem Kopf. Tapo nahm langsam seine Umgebung wieder wahr, als würde er aus langen Träumen erwachen.
Nach einem kräftigen Atemzug wandte er sich an die Dorfälteste: „Ich will euch helfen und tun, was in meiner Macht steht. Nur weiß ich nicht, wie ich mit den Geistern sprechen soll.“ Sie lächelte mit zusammengekniffenen Augen. „Mit ihnen reden und sie auch überzeugen kann nur die Prinzessin der blauen Sande aus unserer Heimat. Das haben mir die Geister mitgeteilt, als sie beschlossen, uns hier zu behalten. Niemand, der je versucht hatte, die Felsinsel zu verlassen, kehrte zurück. Daher fügten wir uns dem Schicksal und hoffen an jedem hellen Tag der Sonne, dass jemand käme, uns zu retten.“ Plötzlich vibrierte der Boden unter ihnen und ein Grollen stieg aus den Tiefen empor. Das Totem schien zum Leben zu erwachen, obwohl es aus Stein bestand. Erschrocken und verwundert besahen Yaya und Tapo sich den Stein näher. Die Bilder auf der Stele bewegten sich tonlos und veränderten sich zyklisch. Die oberste Reihe gravierter Zeichnungen stellte eine Stufenpyramide dar, die von Wind und Regen abgetragen wurde, bis sie verschwunden war. Die mittlere Zeile zeigte Palmen, die an einem See standen, wo Zelte und Gebäude kamen und gingen. In der untersten Anordnung von Bildern erkannte Tapo den Lauf der Sonne, die beim Aufgehen die Spitze einer Pyramide berührte und zur Mittagszeit gegenüber einer Palme stand.
Yaya holte tief Luft. „Die Erdgeister haben dir mitgeteilt, wo du suchen sollst. Seit unserer Ankunft hatten sie sich nicht mehr geregt. Ich glaube, deine Entschlossenheit imponiert ihnen.“, stellte sie an den jungen Fischer gewandt fest. Tapo nickte. „Für das Essen bin ich euch dankbar und meine Hilfe sei euch gewiss. Ich werde die Prinzessin der blauen Sande finden und herbringen.“, versprach er vor der versammelten Dorfgemeinschaft.
Die Menschen der Insel begleiteten Tapo bis zum Strand, wo er sich winkend verabschiedete. Er schwamm mit kräftigen Zügen zu seinem Boot zurück und kletterte hinein. Ein letztes Mal grüßte er die Leute, ehe er das Ruder ergriff und auf sein Heimatdorf zusteuerte.
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