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39. Neue Heimat

Das Heim der Uberts in Reinsdorf im Grundriss  Die Außenwände des um 1750 gebauten Wohnhauses bestehen aus gestampften Lehm, der mit Stroh vermengt wurde. Sie sind etwa einen Meter dick. Die Innenwände wurden aus Vollziegeln gemauert.
Die neue Heimat der Uberts in Reinsdorf

 

Am Morgen unseres Aufbruchs nahmen wir nochmals ein reichhaltiges Frühstück zu uns, ehe wir uns zum Ratsgebäude begaben. Dort verabschiedeten uns die Ältesten mit allen Ehren und vielen guten Wünschen. Die Versorger stellten uns alle möglichen Vorräte zur Verfügung, die wir uns nur erdenken konnten.

In den Werkstätten kümmerten wir uns um die Werkzeuge und Waffen, damit sie weiterhin gute Dienste leisten konnten. Ich schärfte mein Beil und meine Streitaxt nach. Foret reparierte ein Messer, das auf den Reisen beschädigt worden war. Pelok rüstete sich mit unserer Hilfe grundlegend aus, um in der Oberwelt bestehen zu können.

 

Nachdem wir alles zusammengepackt hatten, gingen wir ein letztes Mal zum zentralen Platz der Enklave, auf dem ein Großteil der Bevölkerung versammelt war. Die vielen Zwerge winkten und lachten, gaben uns ihre besten Wünsche mit und bildeten für uns eine Gasse, die den Weg zurück wies. Die Kommandantin ging voran, führte uns durch genau die Tunnel, die wir bei unserer Ankunft durchschritten hatten, zurück in den alten Speisesaal. Die gerüstete Zwergin blieb am Fuße der Stufen stehen. Ulgra nickte uns zu und sagte: "Ihr kennt den Weg ja, die Schalter zum Öffnen der Türen sind von innen her nicht zu übersehen. Viel Glück auf euren Reisen." Leise, kaum verständlich nuschelnd fügte sie an "Tut mir leid, dass ich euch bei eurem Eintreffen so schroff behandelt hatte." Foret und ich grinsten nur und nickten zurück, dann stiegen wir die alte breite Wendeltreppe zu dritt hinauf. Die Tür mit dem Zwiebelmuster glitt nach dem Druck auf eine glühende Steinplatte hinab und gab den Durchgang frei. Auch am oberen Ende der letzten Treppe markierte ein grünliches Glimmen eine Stufe, die als Schalter fungierte. Die Landmarke gab laut scharrend den Ausstieg frei und Pelok sah zum ersten Mal in seinem Leben den voll am Himmel stehenden Mond über den Baumkronen stehen.

Nach kurzer Zeit bewegte sich das verwitterte Monument an seinen Platz zurück und der Zugang verschloss sich wieder sorgfältig. Mit erstauntem Blick beobachtete Pelok den Vorgang, danach verwischten wir die offensichtlichsten Spuren, damit Menschen, die womöglich vorbeikommen könnten, nicht argwöhnisch würden. Leise gingen wir weiter.

 

Innerhalb von fünf Tagen gelangten wir nach Reinsdorf zum neuen Haus der Uberts, das direkt am Ortsrand lag. Nur Felder und kleine Baumgruppen grenzten östlich an das recht weitläufige Grundstück, hinter dem ein kleiner Dorf-Friedhof lag. Wir mussten also aus Westen kommend einen großen Bogen über die Felder in Kauf nehmen, um unbemerkt das Haus zu erreichen. Durch den Garten betraten wir kurz nach Sonnenuntergang den Hof und ich klopfte an die Haustür.

Ein merklich überraschter Erik öffnete, dessen Miene sich mit einem Schlag erhellte. "Daril, du bist wieder da!", begrüßte er mich erfreut und umarmte mich herzlich. Als er Foret und Pelok bemerkte, ließ er mich los und begrüßte sie, indem er beiden die Hand reichte, während ich ihm den jungen Zwerg vorstellte. "Willkommen Pelok, sei gegrüßt Foret. Kommt doch alle herein und esst mit uns zu Abend. Dabei möchte ich alles wissen, was ihr in den letzten Wochen erlebt habt." In dem kleinen gefliesten Flur legten wir unser Gepäck ab, dann lud Erik uns ein, in der Stube Platz zu nehmen. Er zog den Tisch aus und Maria deckte pflichtbewusst für ein Abendbrot. Das Töchterchen Edith blickte verschlafen vom Sofa auf, als es vom geschäftigen Tun geweckt wurde. "Die Zwerge sind da! Ich hab dich vermisst, Daril.", rief das kleine Mädchen aufgeregt, sobald es verstand, was vor sich ging. Erik grinste über das ganze Gesicht, als er sie uns vorstellte: "Sie ist jetzt vier. Seit wir hier leben haben wir oft von euch gesprochen." Obwohl Foret und ich nur wenige Wochen fort gewesen waren, stellte ich fest, wie sehr das Kind gewachsen war.

 

Bei dem deftigen Abendessen mit Brot, Wurst, frischem sowie eingelegtem Gemüse kamen wir ins Schwatzen und berichteten uns gegenseitig über die vergangenen Ereignisse.

Hier in der sowjetischen Zone war man sich noch nicht ganz sicher, wie die Dinge laufen würden, aber die junge Familie war froh, an dieses Haus mit dem großen Grundstück gekommen zu sein. So konnten sie Vieh halten und reichlich Gemüse anbauen, um vernünftig leben zu können. Mit Landwirtschaft kannten sie sich ja von daheim her sehr gut aus. Das alte Lehmhaus war zwar nicht sonderlich groß, doch es bot dennoch genug Platz. Unten befanden sich eine kleine Küche, die Stube, das Schlafzimmer der Eltern, ein Kinderzimmer und der Flur mit einer Speisekammer. Im Obergeschoss, zu dem eine knarzende Holztreppe hinaufführte, war neben einer Räucherkammer auch ein geräumiger Dachboden, den sie bald ausbauen wollten. Dort sollten wir Zwerge schlafen dürfen, was uns nicht viel ausmachte; wenigstens hatten wir so ein Dach über den Köpfen. Morgen sollten wir den Rest des Grundstücks in Augenschein nehmen dürfen.

 

Am Morgen erwarteten Maria und Erik uns mit einem ausgiebigen Frühstück in der Stube. Auf dem Kohleherd in der Küche begann Wasser in einem Kessel sprudelnd zu kochen, der immer lauter pfeifend darüber Auskunft gab. Die Frau mit der groben Schürze goss mit dem Wasser eine Kanne voll Tee auf, die sie vorsichtig zum Tisch brachte. Wir wurden mit Brot, Wurst und Marmelade verköstigt, wobei Pelok nur bewundernde Worte in Khuzdul hervorbrachte, da er kein Deutsch sprach. Foret hatte in der Zeit, die wir gemeinsam in Birnai und danach auf dem beschwerlichen Weg hierher verbracht hatten, Einiges in der Menschensprache gelernt. Wir teilten den Uberts freudig mit, wie Pelok vom Essen schwärmte.

 

Nach der Mahlzeit half ich dabei, den Tisch abzuräumen, während Erik meinen Kameraden den Hof bei Tageslicht zeigte. Nur kurze Zeit später schloss ich mich ihnen an. Der Herbst kam näher und die Ernte war in vollem Gange, bei der wir drei der Familie nur zu gern helfen wollten. Kartoffeln, Rüben und Äpfel mussten eingekellert werden. Birnen und Pflaumen sollten eingeweckt werden, um sie lagern zu können. Das Stroh von der Getreideernte musste gebunden werden, um als Streu für das Vieh gelagert werden zu können. Uns würde für die nächsten Tage und Wochen sicherlich nicht langweilig werden.

 

Zwischen dem Hof der Uberts und dem Nachbarhof lag der Weg, der von der Straße zum Friedhof führte, der hinter dem Grundstück der Familie lag. Durch einen Schacht konnte man von dort aus die Feldfrüchte in den Keller schütten und dort in Holzkisten einlagern. An jenem Tag waren die Kartoffeln dran. Gemeinsam mit Erik und Maria holten wir auf dem Feld die hellbraunen Knollen mit einer Grabegabel aus der trockenen Erde und füllten einen Korb nach dem anderen. Die welken Kartoffelsträucher sammelten wir auf einem großen Haufen, der nach getaner Arbeit angezündet wurde. In die noch heiße Asche gaben wir zum Schluss einige Kartoffeln, die darin garten und später Teil des Mittagessens wurden, das außerdem aus gekochten dicken Bohnen und gebratenem Speck bestand.

 

Die gesammelten Kartoffeln brachten wir mithilfe zweier großer Schubkarren zum Kellerloch und ließen sie die Schütte herunter purzeln. Als alle Knollen abgeladen waren, glitt ich durch die Kartoffelrutsche in den kühlen Vorratskeller hinunter, dessen Boden aus festgestampfter schwarzer Erde bestand. Frisch stieg ein Lufthauch aus dem tiefen gemauerten Brunnenschacht herauf, der vor mir in die Höhe ragte und in der Decke verschwand. Einige Steine fehlten und in so mancher Fuge fehlte schon lange der Mörtel. Ich nahm mir vor, den Missstand bald zu beheben, während ich mir das Mauerwerk im fahlen Licht näher ansah.

Ich rief meinen Freunden zu: „Ihr könnten den Menschen beim Aufräumen helfen. Ich versorge die Kartoffeln in die Kisten. Für mehr als einen von uns ist hier eh kein Platz.“ So tat ich und füllte Stiege um Stiege, die ich in ein grobes Regal aus hartem dunklen Holz stapelte. Die steinerne Treppe wendelte sich einen viertel Kreis aufwärts und wurde von einer hölzernen Luke verschlossen, die sich einfach aufstoßen ließ. So betrat ich das Waschhaus durch den Keller, schloss die Falltür und begab mich auf den Hof des kleinen bäuerlichen Anwesens.

 

Die gesamte Erntezeit bis Ende Oktober halfen wir auf dem Hof der Uberts. Auch wenn das Leben auf dem Land viel Arbeit mit sich brachte, verbrachten wir dort eine sehr glückliche Zeit und lebten uns einigermaßen ein. Pelok lernte auch deutsch, woran besonders Edith viel Spaß hatte, mit der sich der junge Zwerg oft beschäftigte.

 

In der kleinen Scheune führte eine kleine Holztreppe aus dicken Bohlen auf den Strohboden hinauf, der sich über die gesamte Länge des Baus erstreckte. Der Treppenaufgang teilte den langgezogenen Raum in zwei Bereiche. Auf der Straßenseite befand sich im Giebel eine kleine Tür, die aus Holzlatten gezimmert worden war. Darunter standen die beiden Flügel des Tores weit offen. Der Karren stand zur Hälfte in der Einfahrt, wo Erik gerade die Pferde aufzäumte. Ich konnte bequem stehen, doch einem ausgewachsenen Menschen war es nur in gebückter Haltung möglich, sich in dem niedrigen Dachgeschoss zu bewegen. Außerdem musste in regelmäßigen Abständen ein Kehlbalken überwunden werden, der dem Dach zusätzliche Stabilität verlieh. Im Bereich über den Ställen stapelten sich Bündel von Stroh und Heu, wo eine Luke eingelassen war, um die Tiere mit frischer Streu und Futter versorgen zu können. Durch die Tür im Giebel beförderten die Menschen jedes Jahr im Spätsommer die Bunde hinauf auf den Scheunenboden.

Im hinteren Teil des Dachbodens, dem anderen Giebel entgegen, eröffnete sich mir ein wahres Wunderland an alten Schätzen. Eine kunstvoll mit Schnitzereien verzierte Kommode zog mich ebenso in ihren Bann wie altertümliches rostiges Werkzeug. Ausgediente Reitsättel und ein staubiges durchgesessenes Sofa machten den Raum für mich zum gemütlichsten Platz auf dem gesamten Hof. Ein breiter Schrank aus dunklem Nussbaumholz nahm die Giebelseite in Anspruch. Auch wenn er sichtlich beschädigt war, strahlte er noch immer die Handwerkskunst wider, mit der er erschaffen wurde. Ein Fuß fehlte, der durch einen Ziegelstein ersetzt wurde. Die Oberfläche wies viele Kratzer auf. Ein Türknauf war abhandengekommen. Nichts davon aber wertete die geschwungenen Schnitzereien auf den drei Türen ab, die eine Geschichte erzählten.

Die Abbildung auf der linken Seite zeigte eine hochgewachsene menschlich anmutende Gestalt mit langem Haar und spitzen Ohren, dazu einen üppigen Baum und Sterne am Firmament. Auf der mittleren Tür waren zwei schlanke Bäume dargestellt, die ein Tor bildeten. Ihre Stämme trugen unterschiedliche Schriftzeichen, die einen fein und geschwungen, die anderen eckig und markant. An dem Punkt, wo sich die Äste beider Bäume berührten, sah ich eine kleine Vertiefung.

Der rechte Teil des Schrankes wurde vom Motiv eines massiven Berges dominiert, vor dem ein breiter Mann mit einem stattlichen Bart stand. In seiner Hand lag eine schwere Axt. Offensichtlich ein Zwerg.

 

Ich hatte eine Ahnung, ein kribbelndes Gefühl, das tief aus meinem Inneren emporkroch und mich elektrisierte. Meine Freunde mussten davon erfahren! Etwas aufgewühlt ging ich die alte Holztreppe hinab und überquerte den Hof. Im Wohnhaus rief ich alle Anwesenden zusammen und berichtete von meiner Entdeckung.

Erik lächelte mich an. „Als ich diesen Schrank dort zum ersten Mal sah, hatte ich geahnt, dass er für euch Zwerge von Bedeutung sein muss. Wir kennen uns nun seit mehr als zwanzig Jahren, Daril. Deine Kultur fasziniert mich, seitdem du damals in unser Leben geplatzt bist. So oft hattest du von deinen Reisen berichtet, dass ich erkennen konnte, wie wichtig diese Kommode sein musste. Ich hatte nur lange nicht daran gedacht, dass sie dort auf dem Scheunenboden steht und dir deshalb nicht davon berichtet. Familie und Arbeit hatten einfach unseren Alltag bestimmt.“ Ich verstand die Gründe und konnte meinem menschlichen Freund gegenüber in keiner Weise verärgert sein.

Ich beriet mich mit Pelok und Foret später in unserer eigenen Sprache: „Die Zeichen sind unverkennbar. Der Schrank verbirgt ein Portal und ich glaube, dass ich es mit meinem Zirkon aktivieren kann. Der Inschrift nach führt es in ein Land, in dem Zwerge und Elfen eine gemeinsame Zuflucht aufgebaut haben. Das Alter des Möbelstücks kann ich kaum schätzen, glaube aber, dass es mindestens einhundert Jahre alt sein muss. Morgen werden wir packen und unser Glück versuchen. Ich bin gespannt, wohin es uns verschlagen wird.“ Beide nickten enthusiastisch.

 

In der Nacht redeten wir hin und wieder miteinander, da jeder von uns kaum zur Ruhe kam. Die Vorfreude auf neue Abenteuer war groß, aber eine letzte ruhige Nacht und ein reichhaltiges Frühstück wollten wir uns nicht entgehen lassen, bevor es wieder losging.

Im Morgengrauen eines verregneten Tages Anfang November begannen wir unsere Ausrüstung zusammenzupacken. Die Vorräte füllten wir nach dem Essen auf und verabschiedeten uns unter Tränen der Rührung von den lieben Menschen.

 

Auf dem Scheunenboden kramte ich meinen Zirkon aus dem Lederbeutel. Kaum berührte ich mit ihm das Holz des alten Schrankes, erglommen die Intarsien in sattem Grün auf der linken Tür und in kühlem Blau auf der rechten. Der mittlere Teil erstrahlte in hellem Türkis, als ich den Stein leicht in die Vertiefung drückte. Die Holztafel klappte gegen meine Brust, wobei der Zirkon wieder in meine Hand fiel, und gab das Portal frei. Die Uberts standen hinter uns. Von der kleinen Edith kam ein überraschtes Jauchzen. Wir Zwerge winkten und begaben uns durch den Schrank in das Licht hinein, das mich an das Portal erinnerte, das damals Hyrasha und mich in die Nähe Takal Dûms brachte.

 

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