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30. Dunkle Zeiten

Foto: August Otto; Muzeum města Ústí nad Labem / Museum der Stadt Aussig
Blick auf die Elbe über Aussig-Wanow, nach Norden um 1940

Erik hatte die Brettertür zum Schuppen offen stehen lassen, so konnte ich hören, wie das Hoftor aufgeschoben wurde und mehrere Leute das Haus betraten. Daraufhin verließ ich den mir vertrauten Ort möglichst geräuschlos und suchte Foret an der Hausecke auf. Er saß auf dem Boden, den Rücken an die grob verputzte Wand gelehnt und schnarchte leise vor sich hin. Mit der linken Hand rüttelte ich ihn sanft wach. „Du warst lange weg, Daril. Die ganze Aufregung war wohl etwas viel für mich gewesen.“, entschuldigte er sich. Meinen ausgestreckten Arm ergriff er fest und zog sich mit meiner Hilfe auf die Beine. Wir gingen hinunter zum Elbufer, um nach Ziraka zu suchen. Die anhaltende Stille wirkte nach dem Bombardement der amerikanischen Flieger gespenstisch, kaum hörbar gluckerte der breite Fluss nordwärts. Nachdem wir die Schienenstränge überquert hatten, setzten wir uns Rücken an Rücken in das Gras der Böschung, die sanft abfiel. „Ziraka, bist du hier, Schwester?“, fragte ich in das Zwielicht der Abenddämmerung. Ich spürte sie bereits nah an meinem Gesicht, als sie sagte: „Natürlich bin ich da. Du hast mich gebeten zu warten, Brüderchen.“ Ihre dunkle ledrige Schnauze erschien vor mir. Meine Arme umfingen ihren Hals und ich drückte ihr einen Schmatzer auf. „Danke.“, sagte ich, erfreut sie zu sehen. „Es ist schön, auf dich zählen zu können. Mein Freund Erik und seine Familie, die mich für mehr als zehn Jahre aufgenommen hatten, wohnen dort oben auf der anderen Seite der Straße. Ich möchte mich morgen früh mit ihm und seinen Eltern besprechen. Mir läge viel daran, euch beide dabei zu haben. Ich befürchte nur, dass ein Drache ihnen Angst einjagen könnte. Menschen sind seltsam, was Neues und Unbekanntes betrifft, das weiß ich nur zu gut.“

 

Ziraka kicherte mit einem Male. „Ich weiß das auch, Daril. Die Menschen sind mir nicht fremd nach all der Zeit, die ich nun im Steinbruch gelebt habe.“ Ohne Vorwarnung umgaben violette Schlieren wie aus Rauch den Drachen und hüllten ihn vollständig ein. „Die Magie fließt in mir, Brüderchen. Ich brauche mir nur etwas wünschen und es geschieht, solange es mich selbst betrifft. Tungol und Rufol waren gute Lehrer, die mich ermutigten, alles Erdenkliche auszuprobieren.“, sagte sie mit ihrer wohltönenden Stimme und schmunzelte hörbar. Aus dem farbigen Nebel trat eine menschliche Frau mittleren Alters, die Haare lang und schwarz, zu einem Pferdeschwanz gebunden, mit einem schlichten, grün gemusterten Kleid aus grobem Stoff bekleidet, barfuß. Ihre Gestalt war hübsch anzuschauen, übte sich aber in Bescheidenheit. „Ich wäre nun bereit, Menschen gegenüberzutreten.“, sagte sie mit der gewohnten Stimme, die eindeutig zu ihrer neuen Erscheinung passte und lächelte dabei frech. „Das hatte ich nicht erwartet!“, platzte es aus Foret heraus, der Ziraka immer noch ungläubig anstarrte. „Ich ebenso wenig.“, bestätigte ich und grinste meine große Schwester an. „Du steckst voller Überraschungen!“, stieß ich anerkennend hervor. „Lasst uns zum Hof gehen. Im Schuppen können wir uns noch beraten und dann ein wenig schlafen. Vorräte gibt es auf dem Hof auch.“, schlug ich vor. Beide Begleiter waren mit meinem Vorschlag einverstanden und folgten mir hinauf zu Straße. Möglichst leise öffnete ich das Hoftor und verschloss es wieder, nachdem Ziraka und Foret das Grundstück betreten hatten. Dann gingen wir in den Schuppen und ließen uns auf dem Stroh nieder.

 

Ich legte mein Gepäck ab, sah mich im Zwielicht der Nacht um und besorgte uns etwas Essbares. Auf dem Hof der Uberts hatte sich in den vergangenen Jahren nichts wirklich verändert und ich fand schnell eingelagerte Rüben, Kartoffeln und Äpfel. Einige Möhren und Äpfel brachte ich nach vorn zum Lagerplatz und verteilte sie unter uns. Auch Ziraka nahm einen Apfel, von dem sie genussvoll abbiss. Ich putze mir eine Mohrrübe und knabberte daran, aber Foret lehnte ab und starrte gedankenversunken vor sich hin. Leise begann er zu reden: „Diese Flieger haben die die Stadt zerstört. Lernen die Menschen nicht aus ihrer eigenen Geschichte?“ Auch Ziraka wirkte betroffen. „Bisher war es hier recht ruhig gewesen, außer dass der Verkehr auf den Straßen in den letzten Jahren zugenommen hatte. Ich hatte euch noch nicht erzählt, dass ich bei den Menschen immer wieder gelauscht hatte. Deshalb legte ich mir diese Gestalt zu, um nicht aufzufallen. Es war nicht einfach, aber ich habe mir auch ihre Sprachen angeeignet, “, gab die Frau zu, die eigentlich ein Drache war.

 

„Die Deutschen hatten vor sechs Jahren einen Eroberungskrieg angefangen und brachten Hass und Verwüstung über die Welt. Andere Länder schlossen sich ihnen an, wiederum andere kämpften gegen die Fremdherrschaft an. Was nun passiert, ist die Vergeltung der noch freien Völker gegen die Tyrannei. Diese Amerikaner sahen ein, dass sie eingreifen mussten, ehe es zu spät für diese Welt sein würde. Dieses „Radio“ der Menschen ist eine famose Erfindung, um viele Leute zu erreichen, wurde von den deutschen Nazis aber für ihre Propaganda ausgenutzt. Ich hörte die Leute vielfach darüber reden. Manche waren von den Vorhaben der Deutschen überzeugt, andere gaben ihre Skepsis nur zögerlich zu, da sie befürchteten, weggesperrt zu werden. Es kann nur besser werden, wenn der ganzen Sache ein Ende bereitet wird.“ Wieder überraschte mich dieses wundervolle Geschöpf sehr, was meine Mimik ihr wohl verraten hatte. „Ihr dachtet wohl, dass ich über die Jahrhunderte nur in meiner Höhle herumsaß und einzig meine täglichen Rundflüge absolvierte? Das wäre mir so allein viel zu langweilig gewesen. Schon bald, nachdem die Steinformer weitergezogen waren, suchte ich mir interessantere Beschäftigungen. Erst beobachtete ich die Menschen nur, später übte ich mich in der Verwandlung, blieb aber dennoch immer vorsichtig und hielt mich zurück. Die Entwicklung zwischen den verschiedenen Volksgruppen lief schon seit Langem auf eine Spaltung hinaus, dass es aber soweit kommen würde, dass die Deutschen sich als Herrenrasse aufspielten, war nur der Gipfel. Einen Teil dessen solltest du selbst erlebt haben, Brüderchen.“, teilte Ziraka ihre Erfahrungen mit. Ich nickte traurig. „Ja, mir war aufgefallen, dass das Verhältnis zwischen den Tschechen und den Deutschen sehr angespannt war. Die Uberts gingen damit aber entspannter um, sahen nur die Menschen und nicht die vermeintlichen Unterschiede. Als Böhmen von den Deutschen übernommen wurde, verhielten sie sich ruhig, obwohl sie mit den Geschehnissen keineswegs einverstanden waren. Sie schützten mich davor, entdeckt zu werden.“, verteidigte ich die Familie, die mich quasi großgezogen hatte. „Menschen sind an sich nicht böse, aber sie lassen sich von Angst und Bequemlichkeit leiten.“, warf nun Foret ein, der bis dahin unbeteiligt war. „Sie suchen ihren persönlichen Vorteil, ohne sehr auf die Gemeinschaft zu achten. Das macht sie rücksichtslos, aber immer noch nicht böse. Mir machen Menschen erst dann Angst, wenn sie nicht zuhören wollen und ihre Blindheit sie aggressiv macht. Ihre Intelligenz und ihre Gefühle stehen sich gegenseitig im Weg. Nach all dem, was ich über die Großen gehört habe, komme ich zu dem Schluss, dass sie sich einfach selbst blockieren, weil sie engstirnig sind.“ Ziraka und ich nickten. Das waren kluge und wohl überlegte Worte aus Forets Mund. Ich teilte seine Meinung.

 

Den Rest der Nacht verbrachten wir schweigend, teils dösend, teils Gedanken nachhängend. Es war bereits seit einiger Zeit hell, als die Tür des Schuppens aufgestoßen wurde und Erik eintrat. Sein Blick fiel auf Foret und Ziraka, dann auf mich. „Guten Morgen. Schön, euch zu sehen! Ich lese noch eben die Eier bei den Hühnern ab, dann können wir ins Haus gehen. Die Familie weiß Bescheid, dass Besuch kommen wird.“, begrüßte er uns. Er und ich umarmten uns kurz, dann ging er zum Hühnerstall, um seiner Pflicht nachzukommen. Auf seinem Rückweg winkte er uns zu und öffnete weit die Haustür. Im Gänsemarsch huschten wir drei über den Hof in das Haus hinein. Hinter uns fiel die Tür wieder ins Schloss. „Geht in die Küche, ich sage ihnen, dass ihr da seid.“, wies Erik uns an und ich führte meine Begleiter durch das Haus.

 

Der Küchenboden war mit dunklen Steingutkacheln gefliest, durch das hofseitige Fenster fiel Sonnenlicht in den Raum. Ein großer Kohleherd stand links der Tür an der Wand, der große Tisch nahm den größten Platz in der Küche ein, eine Bank und zwei Stühle standen dort. Wir nahmen Platz und warteten kaum, bis Erik mit Josef und Hilde erschien. Hinter ihnen folgten drei junge Frauen. Die Eltern erschienen mir mehr gealtert zu sein, als es bei Menschen innerhalb der wenigen Jahre üblich erschien. Die ungewissen Ereignisse schienen ihnen viele Sorgen bereitet zu haben. „Daril, es tut gut, dass du wieder da bist!“, begrüßte Hilde mich erfreut, ging in die Hocke und nahm mich wie einen vermissten Sohn in die Arme. „Dein Bart ist viel dichter als früher, aber sonst hast du dich kaum verändert, mein Lieber. Gut, dich zu sehen.“, kommentierte Josef mein Aussehen. Erik wies nach hinten auf die Frauen. „Meine Frau Maria. Ich hatte ihr von dir erzählt. Beate und Walli hatten dich auch vermisst.“, stellte er sie vor. Wie hatte ich nur seine beiden Schwestern vergessen können? Sie waren noch kleine Mädchen, als Erik und ich damals den Hof verlassen hatten und nun standen zwei erwachsene Damen mit ihrer Schwägerin vor mir.

 

Ich atmete tief durch und richtete mich an die Familie. „Meine Begleiter sind Foret, der kein deutsch oder tschechisch spricht und Ziraka, die sich hier auskennt und in der Nähe wohnt.“ Beide nickten den Uberts entgegen. „Foret und ich sind erst vor wenigen Tagen wieder zurück nach Böhmen gekommen. Ziraka und uns Zwerge verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, was sie vertrauenswürdig macht. Ich hatte mich nie um die Zeit gekümmert, als wir unterwegs waren, nur das zufällige Zusammentreffen mit Erik in Russland und gestern hier vor dem Haus ließen mich ihn nach dem Datum fragen. Dass bereits sechs Jahre vergangen sind, wurde mir erst dadurch bewusst. Mir selbst kam es vor, als wären es nur einige Wochen gewesen.“, sprudelte es aus mir heraus. Ich setzte fort: „Als wir gestern die Erschütterungen spürten und die Flieger sahen, machten wir uns auf den Weg zu euch, weil ich unbedingt wissen musste, ob es euch allen gut geht. Ich bin so froh, euch gesund und wohlauf zu sehen.“ Erik sah mich mit ernstem Blick an. „Es lief nicht ganz so gut, wie es scheint. In Russland wurde ich krank und als dienstuntauglich wieder heim geschickt. Weil ich giftiges Gas eingeatmet hatte, sind meine Lungen geschädigt. Seit zwei Jahren bin ich wieder hier und habe mich recht gut erholt, auch wenn ich nicht mehr so ausdauernd arbeiten kann wie früher. Ich bin froh, nicht mehr im Krieg sein zu müssen. Es war schrecklich.“, berichtete der nun fast dreißigjährige Mann. Josef setzte nun an, etwas zu sagen: „Den Hof haben wir problemlos weiterführen können, nachdem die Deutschen hier alles übernommen hatten. Unsere tschechischen Freunde stellten wir als Arbeiter ein, um sie vor den neuen Herren zu beschützen. Das funktionierte soweit gut, aber die ansässigen Juden hatten sie allesamt abtransportiert. Niemand von uns weiß wohin, aber wir gehen davon aus, dass sie nicht mehr leben. Die Nationalsozialisten sind streng und dulden weder Widerworte noch jegliches ‚Undeutsche‘.“ Das letzte Wort spuckte Josef förmlich aus. Hilde fasste ihren Mann an der Hand. „Wir hielten die Füße still und blieben so weitgehend unbehelligt. Vor zwei Jahren hatten Maria und Erik geheiratet, nachdem er wieder zu Hause war. Sie kommt aus Sebusein. Aber kommt, wir machen Frühstück für alle, geht in die Stube und macht es euch dort bequem. Wir decken den Tisch.“

 

Josef ging vor und zeigte auf das bequem aussehende Sofa, das die gesamte Ostwand einnahm. Außerdem befand sich ein massiver Tisch mit sechs gepolsterten Stühlen in der Stube, sowie eine Vitrine auf der eine tickende Uhr stand und ein Regal in dem ein Radio und viele Bücher ihren Platz hatten. Josef stopfte sich eine Pfeife und zündete den Tabak darin an. „Ich hoffe, es wird nicht mehr lange dauern und dieser vermaledeite Krieg findet sein Ende. Schon der große Krieg vor dreißig Jahren war mir zuwider. Ich war Offizier bei den Österreichern, aber ich tat nur, wozu man mich verpflichtet hatte. All diese Kriegstreiberei nagt sehr an der Seele.“, gab der ältere Man mit dem Schnauzbart seine Gedanken preis. „Nie wollte ich mehr, als den Hof bewirtschaften, damit wir ein gutes Auskommen haben. Meine Familie liegt mir am Herzen, ebenso die Pferde und die anderen Tiere. Uns ging es immer recht gut und wir lebten von den Erträgen unserer Arbeit auf den Feldern. Die Herren in ihren Palästen säen Zwietracht zwischen den Menschen. Und wer wird ins Feld geschickt? Der kleine Bauer, der nur ein ruhiges Leben führen mag. Unter den Tschechen ging es uns gar nicht so schlecht. Es gab Wahlen und wir konnten mitbestimmen, aber zu lange wurden die Tschechen schlechter behandelt und sie versuchten nach dem letzten Krieg den Spieß umzudrehen. Wir Deutschsprachigen hatten es in dieser Zeit nicht so einfach wie unter den Österreichern, Tschechisch wurde zur Landessprache und der Unmut unter den ‚Sudetendeutschen‘ wuchs. Kein Wunder, dass sich viele von uns diesem Hitler und seinen Schergen in die Arme warfen. Wir haben immer versucht, uns da herauszuhalten, was nicht immer gelang. Erik musste schließlich der Wehrmacht beitreten. Aber das weißt du ja, Daril.“

Während Josef redete, übersetzte ich seine Worte für Foret. Hilde und die jungen Frauen deckten den Tisch und waren in der Küche beschäftigt. Erik kümmerte sich draußen um die Tiere.

 

Der Kaffee und das frische Weißbrot dufteten köstlich. Auf dem Tisch standen Milch, Butter, Honig und Wurst bereit, auch gebratenes Ei mit Speck wurde gereicht. Alle versammelten sich am Esstisch in der Stube und nahmen die Mahlzeit gemeinsam ein. Ziraka hielt sich etwas zurück, aber Foret langte zu, als hätte er eine Woche lang nicht gegessen. Ihm schmeckte es vorzüglich, durfte ich Hilde mitteilen.

Die Uberts baten uns, noch eine Weile zu bleiben, da sie nicht wussten, was passieren würde, wenn der Krieg zu Ende ging. Ziraka verabschiedete sich fürs Erste, versprach aber, täglich nach uns zu sehen, Foret und ich blieben auf dem Hof und machten uns nützlich.

 

Knapp drei Wochen später konnten wir im Radio hören, dass der Krieg für beendet erklärt wurde. Bald darauf begehrten die Tschechen auf und drangsalierten die verhassten Deutschen in ihrem Land, das nun wieder die Tschechoslowakische Republik war. Präsident Beneš kehrte aus dem britischen Exil zurück und ließ bekannt machen, dass die Deutschböhmen das Land verlassen sollten. Bis zum Juli kam es in und um Aussig zu mehreren Vorfällen, bei denen deutschstämmige Bewohner verletzt oder auch getötet wurden. Viele der ansässigen Deutschen verließen daraufhin mehr oder weniger freiwillig ihre Heimat in Richtung Deutschland. Die Familie Ubert blieb solange es die tschechoslowakische Regierung es zuließ.

Im März neunzehnhundert-sechsundvierzig war es dann soweit. Mehrere tschechische Polizisten kamen auf den Hof und forderten die Familie auf, die nötigsten Sachen einzupacken. Sie hatten eine Stunde Zeit, bevor man sie zum Zug bringen würde.

Erik war inzwischen Vater einer Tochter geworden, die Edith hieß. Während die erwachsenen Menschen zusammenpackten, dessen sie habhaft werden konnten, passten Foret und ich im Schuppen auf das kleine Mädchen auf. Die Polizisten gingen wenig zimperlich mit den Uberts um, warfen die Koffer auf einen Pferdekarren und befahlen den Menschen, sich hineinzusetzen. Das Hoftor schlug zu, dann war Stille auf dem Hof. Foret und ich warteten im Schuppen, bis Ziraka am nächsten Morgen erscheinen würde.

 

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