Je höher wir den Weg gingen, umso weniger wurden die Wohngebäude. Es roch nach Erde, Dung und Pilzen. Ein Stück voraus fiel Sonnenlicht in die unterirdische Welt der Zwerge hinein. „Wir betreten gerade die Agrarzone von Mebel’aban.“, begann Thídra zu erzählen. „Die Pilzzucht befindet sich im feuchteren dunklen Teil der Anlage. Das Holz und die Rinde abgestorbener Bäume bildet die Grundlage für ein gutes Wachstum des Myzels. In der freien Natur können Pilzgeflechte große Flächen einnehmen, die ein begrenzter Organismus gar nicht wirklich erfassen kann. Die Symbiose unter den unterschiedlichen Lebewesen beeinflusst ihr Wachstum gegenseitig. Stirbt ein Teil des Systems, profitiert ein anderer davon und es ergibt sich ein sich ständig erneuernder Kreislauf aus Leben und Tod.“ Mich erinnerten diese Zusammenhänge mit einem Male an die Säule in der Nähe des „Pfads des Mets“ in Takal Dûm. Es ging um Leben und Tod, Geben und Nehmen, den Kreislauf des Lebens und um Bescheidenheit. „Dass Pilze die Grundlage unserer Ernährung bilden, hat nicht nur praktische Bewandtnis, man kann sogar die Lebensweise der Pilze mit der unseres Volkes vergleichen. Der Großteil unseres Daseins findet ebenso unterirdisch statt. Wir nutzen die uns gegebenen Ressourcen und führen sowohl unsere Ausscheidungen als auch unsere Toten wieder dem ewigen Kreislauf zu. Alle kleinen Lebenszyklen bilden gemeinsam einen übergeordneten regelmäßigen Ablauf und beeinflussen sich auch gegenseitig.“, sinnierte ich redend vor mich hin, bis ich merkte, dass meine beiden Begleiter mich verwirrt anschauten. Ich erklärte mich umgehend: „Entschuldigt, ich hatte über die Inschriften der Säule in Takal Dûms Oberstadt nachgedacht und glaube nun deren Bedeutung erfassen zu können. Es ist keine Meditation, sondern der Hinweis auf den Kreislauf alles Lebenden.“
Fendur schien mich gehört zu haben, denn er stand in der Nähe und sprach mich an. „Das hab ihr gut zusammengefasst, Herr Daril. Besser hätte ich das auch nicht sagen können. Ich heiße euch in den Gärten von Hartfels willkommen.“ Foret, Thídra und ich verbeugten uns vor dem Ratsherrn. „Nicht so förmlich, bitte. Ich bin nur ein Gärtner und Druide. Lasst mich euch die Gärten zeigen.“, bot er an.
Fendur schritt gemächlich voran und wir folgten ihm. „Weiter vorn haben wir einen Übergang zur Oberwelt, wie ihr sicher bereits an den herrschenden Lichtverhältnissen erkannt habt. Dort befinden sich die Ställe und draußen haben wir Felder angelegt.“ Als wir ankamen, konnte ich die Hühner gackern hören. Einige Schweine liefen durch den großzügig abgezäunten Bereich. Der Druide setzte seine Erklärungen fort: „Um die Elche kümmern wir uns gemeinsam mit den ansässigen Menschen. Die Tiere leben weitgehend wild in der Umgebung, aber sie benötigen auch unsere Fürsorge. Nur schwer verletzte Tiere werden getötet und geschlachtet. Dabei verwerten wir alles, was möglich ist. Fell, Leder und Knochen verarbeiten wir zu nützlichen Dingen und das Fleisch ist schmackhaft. Mit den Schweinen und Hühnern verfahren wir ebenso, wobei uns die Eier der Vögel wichtiger sind als deren Fleisch. Den Bestand halten wir soweit konstant, weshalb Fleisch nur selten auf unserer Speisekarte steht. Was draußen wächst, landet daher öfter auf dem Tisch.“
Als wäre dies das Stichwort gewesen, führte er uns daraufhin durch den breiten Felsüberhang in die Oberwelt. Die Luft war kühl und der Wind frisch, aber der Frühling kündigte sich an. Der Ratsherr erklärte weiter: „Hier bauen wir Gemüse in Mischkultur an. Gleichzeitig wachsen auf unseren Äckern Zwiebeln, Erbsen, Rüben und Kohl. Dazwischen stehen unterschiedliche Obstbäume und an den Südhängen der Berge finden wir im Sommer verschiedene Beeren. Auch unsere Bienenvölker haben hier ihr Zuhause. Wir dürfen den Hopfen und die Gerste für unser Bier nicht vergessen, auch dafür wird gesorgt. Etwa sechzig Leute kümmern sich um unsere Tiere, Pflanzen und Pilze, damit die Stadt ausreichend ernährt werden kann.“ Foret nickte anerkennend. „Eine beachtliche Leistung, die hier erbracht wird, werter Fendur.“, stellte er bewundernd fest. „Unsere Lager sind noch gefüllt, bis wir wieder ernten können. So manche Feldfrüchte lassen sich gut einkellern und andere kann man trocknen. Wir sind also immer gut versorgt und die Köche sind wahre Meister ihres Faches.“, lobte er die Arbeit der Zwerge in der Großküche.
Wir machten noch einen Rundgang durch die Felder und den angrenzenden Wald. Oben auf dem Berge würden Olthek und seine Kameraden über die Umgebung wachen, auf der anderen Seite des Massivs war sicher Garg, der Bergtroll, unterwegs.
Als die Sonne sich dem Horizont näherte und es begann zu dämmern, machten wir uns auf den Rückweg zur Stadt.
Wir erreichten die „Taverne des Eisenbändigers“ während der Essenszeit. Der Gastraum war voll mit Zwergen. „Folgt mir, ich habe Callia gesehen.“, sagte Thídra, nachdem wir das Lokal betreten hatten. Zehn Bedienstete huschten durch den Gastraum, brachten Essen und Getränke zu den Leuten und räumten die verlassenen Tische ab. Links in der hinteren Ecke saß die oberste Ratsherrin mit fünf ihrer Kollegen, nur Fendur fehlte noch. Thídra, Foret und ich grüßten die Runde angemessen mit einer kleinen Verbeugung. Ich richtete das Wort an sie: „Shamukh uzruk Mebel’abanu!“ („Grüße, ihr Meister des Hartfels!“) Sie bedeuteten uns, Platz zu nehmen. „Ihr hattet darum gebeten, uns hier zum Essen zu treffen, um Euren neuen Gefährten zu präsentieren. Wollen wir noch warten, oder schon etwas trinken?“, entgegnete Callia forsch. Durst hatte ich, aber mein Anstand riet mir, auf die beiden Nachzügler zu warten. Ich sagte also: „Lasst uns bitte noch auf Fendur und unseren Freund warten, damit wir gemeinsam beginnen können.“ Es dauerte nicht lange und Olthek trat durch den Türbogen. Er orientierte sich kurz und bewegte sich dann auf uns zu. „Guten Abend, werte Stadträte, Mutter und Gäste. Ich bin mit euch verabredet.“, stellte der junge Zwerg zur Überraschung seiner Tante kurz klar und nickte jedem in der Runde zu. Wenig später erschien auch der Druide etwas abgehetzt am Tisch und setzte sich dazu. „Entschuldigt die späte Ankunft, ich hatte etwas die Zeit vergessen. Es war mir eine Freude, unseren Besuchern die Felder zu zeigen.“, rechtfertigte Fendur sich. Snark winkte eine Bedienung zum Tisch und bestellte Metbier und Essen für alle. Kurz später kamen zwei Zwerginnen, die elf Becher und zwei volle große Bierkrüge auf den Tisch stellten. Foret griff den Krug und schenkte den Anwesenden ein.
Ich stand auf und ergriff das Wort: „Werte Khazâd von Mebel’aban!“ Plötzlich herrschte komplette Ruhe in der Taverne. „Ich möchte euch allen für die uns entgegengebrachte Gastfreundschaft sehr danken. Es ist eine Freude, dass ich nach so langer Zeit wieder unter meinesgleichen weilen darf. Doch meine Reise muss weitergehen und es gibt Zwerge, die mich dabei begleiten wollen. Foret aus Takal Dûm ist mir ein guter Freund geworden auf unserem Weg zu euch. Olthek, aus eurer Mitte, möchte sich uns anschließen und die Siedlungen unserer Brüder mit mir ausfindig machen.“ Dann schloss Olthek an: „Daher erbitte ich bei Ratsherrin Callia, meiner Tante, die Freistellung aus meinen Verpflichtungen, damit ich die Reise gemeinsam mit unseren neuen Freunden fortsetzen kann, als Teil der Sieben, die unser Volk wieder vereinen nach so langer Zeit.“ Callia schluckte merklich bei seinen Worten, aber sie fasste sich wieder und antwortete mit fester Stimme: „Olthek, Sohn des Ufur, ich spreche dich als oberste Rätin von Hartfels von all deinen Verpflichtungen gegenüber der Stadt frei. Du hast deinem Volk bisher gut gedient und du wirst dies auf andere Weise auch weiterhin tun. Eure Reise ist ein ehrbares Unterfangen, das wir alle hier unterstützen. Wir freuen uns darauf, die anderen Nachkommen Takal Dûms kennenzulernen, wenn Eure Mission Erfolg hat. Unsere besten Wünsche werden euch drei und eure zukünftigen Gefährten begleiten.“ Der gesamte Saal beantwortete die Ansprachen mit großem Getöse und Geklatsche. Langsam ebbte der Lärm ab und nur noch das Gemurmel einzelner Gespräche untermalte das Geschehen.
Das Essen wurde auf Holzbrettern serviert. Ein Korb mit Brot und ein Tiegel mit Schweineschmalz gesellten sich zu Käse, Pilzaufstrich, Bratenaufschnitt und Moosbeerenmarmelade. Letztere passte vorzüglich zu dem Schnittkäse aus Elchmilch.
Die Zwergin, die den Tisch bediente bot uns auch vom Eintopf an, den es bereits zur Mittagszeit gab. Einige orderten davon eine Portion.
Das Essen war rustikal und wirklich gut. Mir wurde mit einem Male bewusst, wie sehr mir das gemeinsame Einnehmen einer Mahlzeit doch wichtig war. Jeder Moment davon war mir eine Freude.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Becher des köstlichen Metbieres ich getrunken hatte, aber der Weg zum Nachtlager fiel mir nicht mehr sehr leicht. Als wir die Unterkunft erreichten, ließ ich mich einfach auf die Pritsche fallen und schlief fast sofort ein. In dieser Nacht schlief ich durch und fühlte mich beim Aufwachen recht erholt. Anscheinend hatte ich es am Vorabend doch nicht wirklich übertrieben.
Ich begann den neuen Tag gemütlich und weckte den noch schlummernden Foret erst, nachdem ich mich frisch gemacht hatte. Der Waschraum, der sich hinter dem Schlafsaal befand, war dem in Gabil‘urdûm ähnlich und ich fand mich gut zurecht.
„Komm, Foret, wir wollen heute unsere Reise fortsetzen!“, rief ich und versuchte ihn zu wecken, aber er zog sich die Decke noch einmal über den Kopf und grummelte vor sich hin. ‚Na gut,‘, dachte ich mir, ‚dann lasse ich dich ausschlafen, aber beschwere dich später nicht!‘
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