Foret weckte mich aus wirren Traumfetzen, indem er mir mehrfach an den Arm stieß. Schlaftrunken grummelte ich ihn an: „Ich habe schlecht geschlafen, ich brauche noch eine Weile.“ Er ließ sich nicht beirren und meinte, dass es wichtig sei aufzustehen. Ich rappelte mich also auf, um mich anzuziehen.
„Draußen versammeln sich die Einwohner. Ich denke, wir sollten uns das ansehen.“, drängelte Foret. Ich versuchte die Müdigkeit abzuschütteln und mich zu beeilen. Gemeinsam stellten wir uns dann in den Eingang und beobachteten die Vorgänge auf dem großen Platz.
Callia erschien mit zwei weiteren Zwergen im Gefolge am Türbogen des Ratsgebäudes. „Zwerge des Hartfels! Gestern durften wir zwei Steingeborene aus der Stadt der Vorväter in unserer Mitte begrüßen. Ich habe mir ihre Erzählungen angehört und lange darüber nachgedacht, wie ich diese einordnen soll. Beide waren ehrlich, soweit ich das beurteilen kann. Sie haben einen guten Eindruck bei mir hinterlassen, weshalb ich euch bitte, sie ebenfalls wohlwollend zu empfangen. Es tut gut zu wissen, dass in dieser Welt immer noch Zwerge leben, denen die Geschichte ihres Volkes am Herzen liegt. Daril und Foret sollen daher wie Brüder gesehen werden, nicht als Fremde. Danke.“, sprach sie zu ihrem Volk.
Ich fand es nur richtig, nun gemeinsam mit Foret mit den Bewohnern der Stadt zu sprechen und begab mich zielstrebig in die Mitte des Versammlungsplatzes. Ich rief: „Stellt eure Fragen, Leute. Wir werden sie mit bestem Wissen beantworten. Auch wir sind neugierig auf euch und möchten gern erfahren, wie ihr lebt.“
Der Großteil der anwesenden Zwerge ging seines Weges und seinen Tätigkeiten nach. Jene, die etwas Zeit erübrigen konnten, scharten sich um uns. „Ist es wahr, dass ihr aus Takal Dûm kommt?“ „Warum gab es bisher keine Zwerge, die Kontakt zu uns gesucht hatten?“ „Wie habt ihr uns gefunden?“ Das waren nur wenige der Fragen, die uns entgegen sprudelten. Foret und ich versuchten sie abwechselnd zu beantworten und gaben auch zu, wenn wir etwas nicht wussten. Wir befanden uns ja immer noch am Beginn unserer Reise.
Callia nickte mir wohlwollend zu, als ich kurz zu ihr sah. Ich lächelte und war den anwesenden Zwergen nur gern zu Diensten.
Die Regierung Mebel’abans war einfach aufgebaut und effektiv. An der Spitze stand im Moment Callia als oberste Ratsherrin, zuständig für die allgemeine Verwaltung. Der Rat setzte sich, die Herrin eingeschlossen, aus sieben Mitgliedern zusammen. Das erklärte auch die Ausstattung des Saales, in dem wir gestern gemeinsam gegessen hatten. Die sechs weiteren Ratsmitglieder überwachten mit ihren Mitarbeitern die einzelnen Bereiche Handwerk, Wissenschaft, Ernährung, Rechtswesen, Gemeinschaftswesen und Außenwelt.
Diese Strukturen unterschieden sich kaum von jenen, die in Takal Dûm Anwendung gefunden hatten. Die Größe der Bevölkerung belief sich derzeit auf dreihundertsiebenundfünfzig Zwerge, die sich ab dem Alter von dreißig Jahren ihren Platz im gesellschaftlichen Gefüge suchten, der möglichst ihren eigenen Fähigkeiten und Interessen entsprach. Die einzelnen Bereiche gliederten sich in Gilden auf, die die jungen Zwerge in ihrer Berufung ausbildeten. Das geschah, nachdem sie über fünfzehn Jahre eine allgemeine Grundbildung erfahren hatten. Jeder hier konnte lesen, schreiben, kochen und auch einen Hammer benutzen. Die Spezialisierung war dann die Aufgabe der Gilden.
Ich war beeindruckt, dass diese Leute die Kultur ihrer Vorfahren so sehr ehrten und weiterhin lebten. Ihre Sprache hatte sich offensichtlich auch kaum verändert, nur wenige Worte und ein charmanter Akzent betonten die Ferne zum Ursprung.
Ich war schier überwältigt von der Herzlichkeit der Hartfels-Zwerge und freute mich über jedes Gespräch, das sich ergab. Doch langsam machten sich Durst und Hunger bemerkbar. Ich sprach einfach eine Frau an, die bei mir stand: „Foret und ich hatten noch nicht die Gelegenheit, etwas zu uns zu nehmen. Wo können wir essen und uns weiter unterhalten?“ Ihre erste Reaktion war ein freundliches Lächeln, ihr blond schimmernder Bartflaum betonte dabei ihre Gesichtszüge. „Folgt mir zur Taverne der Schmiede, junger Herr, dort bekommt ihr, was ihr braucht. Ich bin Thídra, Callias Schwester.“, sagte sie und ging voraus. Foret, ich und einige weitere Zwerge folgten ihr gemütlichen Schrittes. Wir gingen rechts am Ratsgebäude vorbei und an einer Rinne entlang, in der flüssiges Gestein floss . Das Magma versorgte die gesamte unterirdische Stadt mit Feuer und Wärme, berichtete ein Kind, dass mit uns ging. Die Rinne mündete in einen See aus Lava, an dessen Rand mehrere Ambosse, sowie Behälter mit Schmiedewerkzeug standen. Linker Hand befand sich ein in den Fels gehauener Eingang. „Taverne des Eisenbändigers“ erstrahlte in feurigen Runen über dem Durchlass.
gargzahar ubabu zirinul
Thídra blieb vor dem Türbogen stehen und wies uns einzutreten. „Willkommen im Heim der Schmiede! Hier mangelt es niemandem an Speis und Trank.“, warb sie für die Schenke. In Ornamenten zog sich feurig-rotes Licht durch die Felswände, das das Innere ausreichend beleuchtete. Die Tische, in vier Reihen angeordnet, waren kunstvoll aus dem Stein gehauen worden, aber die Stühle bestanden, wie im Ratsgebäude, aus schwerem Holz, nur ohne die Polsterung. An der rechten Seite des Raumes erstreckte sich ein Tresen, hinter dem mehrere große Fässer aufgestellt waren. Der Tresen war ein Musterbeispiel der Steinmetzkunst. Die Flächen verziert mit einem Fries, das arbeitende Zwerge zeigte, die einen gewaltigen Streithammer fertigten. Die obere Zierleiste bestand aus einem einfachen geometrischen Muster, das sich regelmäßig über die Länge der Theke wiederholte. Das war für mich ein imposanter Anblick, der mich bass erstaunt stehen bleiben ließ. „Das ist wunderschön!“, brachte ich flüsternd heraus und Thídra schaute mich darauf belustigt an. „Das freut mich. Der Vater unseres Vaters und drei seiner Lehrlinge hatten dieses Kunstwerk einst erschaffen. In den anderen Tavernen befinden sich ähnliche Abbildungen.“, erklärte sie amüsiert. „Ich bin übrigens die Wirtin hier. Da es noch früh ist, wird es einen Bergkräuteraufguss zu trinken geben. Als Frühstück lasse ich Brot, Käse und Wurst bringen. Kommt, nehmt Platz!“, forderte sie alle auf.
Neben Foret und mir setzten sich die anderen anwesenden Zwerge an den langen Tisch. „Du siehst gar nicht so alt aus wie du sein solltest. Hab gehört, dass du vor dem Weggang schon erwachsen warst.“, bemerkte ein Kind. Ich nickte und antwortete: „Junger Khuzd, ja ich war bereits ein Khazdûn, als die Menschen die Stadt der Vorväter bedrohten. Unsere Gelehrten schlossen mich in eine steinerne Hülle ein, die mich nicht altern ließ, sondern mein Leben über sehr lange Zeit bewahrte. Als es an der Zeit war, wuchs ich in der Hülle wieder heran und durchbrach sie wie eine Eierschale. Es dauerte einige Sonnenläufe, ehe ich wieder meine normale Größe erreicht und mein vorheriges Wissen wiedererlangt hatte. Man kann sagen, dass ich neu geboren wurde, wie ein Huhn aus einem Ei. Deshalb kann ich heute hier bei euch sein, was mich sehr erfreut.“
In diesem Moment erschient Thídra mit einem großen Tablett am Tisch und verteilte tönerne Becher mit dampfendem, wohlriechendem Inhalt. Dazu stellte sie einen Tontopf, in dem sich Honig befand. „Am besten schmeckt der Kräuteraufguss gesüßt.“, kommentierte sie. Alle bedankten sich und wir ließen uns das Getränk schmecken. Kurz darauf wurden Teller mit dem Essen gebracht. Jeder konnte sich selbstständig daran bedienen. Zum dunklen Brot gab es Pilzaufstrich, würzigen Käse und grobe Wurst. Genau das Richtige für einen ereignisreichen Tag.
Während Foret, ich und andere Hungrige zugriffen, begann Thídra zu erzählen:
„Der Großvater unseres Großvaters verließ Takal Dûm gemeinsam mit der Gilde der Erzformer, der er angehörte. Sein Name war Hargomm. Nie hatte er den Menschen noch irgendeinem anderen Volk etwas abgewinnen können. Er hatte Angst um seine Familie und schloss sich der ersten Welle Flüchtender an. Sie trieben neue Tunnel durch die Minen nahe des Heims des Wissens, bis sie in eine weiträumige Höhle durchbrachen. Den Durchbruch versahen sie mit einer magischen Tür und bewegten sich weiter durch den Untergrund, folgten Wasserläufen und Höhlengängen, bis sie auf einen flachen See stießen. Einer von uns hätte darin ertrinken können, der Kopf eines Menschen oder Elfen hätte problemlos über den Wasserspiegel geschaut. Unsere Vorfahren legten im See eine Furt an, damit Nachfolgende weniger Schwierigkeiten hatten, ihn zu überqueren. Es ging nur langsam voran, aber Hargomm und seine Mitreisenden verzagten nicht, sondern trotzten den Widernissen. Nachdem die gesamte Gruppe den See passiert hatte, erreichte sie neuerlich eine große Höhle, die aber aus porösem Gestein bestand. Sie entschlossen sich, hier eine Zwischenstation zu errichten und nannten diese „Halle des Vermächtnisses“. Hier würde man wichtige Schriftstücke verwahren, damit Nachfolgende ihren Weg zu finden vermochten. Es ging ihnen darum, unsere Bräuche für alle Zwerge in Erinnerung rufen zu können. Sie legten den Grundstein für ein Archiv und bauten auf ihrem weiteren Weg Fallen ein, die Fremden die Verfolgung sehr erschweren würde. Über der Erde wäre eine Siedlung der Elfen nahe gewesen, darunter bauten die Steingeborenen ihr Tunnelsystem weiter in nordwestlicher Richtung aus. Mit einigen Zwischenhalten, Fallen und Schlupfwinkeln erreichten sie nach Jahren eine Felsformation, die sie nicht so einfach zu durchdringen vermochten. Dort befinden wir uns heute. Im Hartfels. Hargomm wurde von den Khazâd, die sich hier ansiedelten, in den Rat gewählt, der ganz nach traditionellem Vorbild gestaltet wurde. Die Clangebundenheit wurde bei uns aber abgeschafft, sodass sich unsere Gesellschaft neu ordnen musste. Alle Zehn Sonnenläufe wählen wir einen neuen Rat, der wiederum einen der Sieben zum Herrn oder zur Herrin von Mebel’aban ernennt. Wir leben seitdem in einer friedlichen Gemeinschaft, wo alle Vorgänge ineinander greifen und jeder jeden unterstützt. Außerdem haben wir recht gute, wenn auch nur gelegentliche Begegnungen mit den einheimischen Menschen. Von ihnen haben wir gelernt, Elche und Schweine zu halten, sowie die Sommermonate zu nutzen, um unsere Versorgung langfristig zu gewährleisten. Wir sind alle stolz, das gemeinsam geschafft zu haben.“
So endete sie mit einem entschlossenen und stolzen Gesichtsausdruck ihren Bericht.
„Das war sehr interessant, Thídra. Ich bedanke mich für deine Ausführungen.“, dankte ich ihr. „Es freut mich zu sehen, dass es euch allen augenscheinlich recht gut geht. Ich bin außerordentlich froh, euch gefunden zu haben.“ Die Zwergin lächelte mich freundlich an und begann den Tisch abzuräumen, einige andere der Anwesenden halfen ihr dabei.
Bald kam sie aus dem Bereich hinter dem Tresen zu uns zurück. „Wir sollten die Weisen besuchen, sie können sicher einige eurer Fragen besser beantworten als ich. Ich geleite euch.“, tat sie kund. Wir nickten zum Einverständnis.
Alle erhoben sich und Thídra nahm wieder ihre Position als Fremdenführerin ein. Sie ging voran und begann erneut zu erzählen: „Nachdem unsere Ahnen beschlossen hatten, hier sesshaft zu werden, wurde die erste Ratswahl abgehalten. Alle Khazâd ab einem Alter von dreißig Sonnenläufen durften ihre Stimme abgeben, um die sieben Räte zu bestimmen. Zur Wahl stellen durfte sich jede Person ab dem fünfzigsten Lebensjahr, um eine gewisse Erfahrung zu gewährleisten. Das machen wir heute immer noch so.“
Lauschend folgte die kleine Traube vom Zwergen der vielseitig bewanderten Frau, deren blonde Zöpfe bei jedem Schritt hin und her schwangen. Wieder überquerten wir den zentralen Versammlungsplatz vor dem Ratsgebäude. Diesmal wandten wir uns nach rechts und hatten so dem kleinen Regierungssitz die Rücken zugewandt. Der Weg führte uns in Richtung des Aufgangs zur Oberwelt, doch rechts vor dem Torbogen betraten wir eine flache Höhle durch einen recht unscheinbaren Durchgang. So niedrig die Decke war, so weitläufig zog sich im Gegensatz das Areal. Es gliederte sich laut Thídra in eine Bibliothek, einem Forschungszentrum, einer Schule und in einen magischen Zirkel auf. Einzelne dort beschäftigte Zwerge schauten von ihrer Arbeit auf und grüßten uns freundlich. Kurz darauf wurden wir von Ratsherrn Brondil, dem Herrn über das gesammelte Wissen, begrüßt: „Willkommen Freunde! Kann ich euch helfen?“ Wir verneinten. „Wir möchten uns nur die gesamte Stadt ansehen. Falls sich Fragen ergeben, werden wir sie stellen.“, antwortete diesmal Foret. Brondil nickte und begab sich zurück an seine Arbeit.
„Ich bin beeindruckt von der Gestaltung und der Effizienz eurer Stadt. Takal Dûm ist nur größer, aber gewiss nicht besser als das, was ihr hier aufgebaut habt. Vieles erinnert mich an meine Heimat.“, äußerte Foret sich, der mir ungewohnt redselig erschien. „Sehr lange Zeit habe ich ganz allein in der großen Stadt verbracht, dass ich es nicht gewohnt bin, Leute um mich zu haben. Ich muss aber sagen, dass ich mich unter euch sehr wohl fühle und eure Gesellschaft sehr schätze.“, setzte er fort. Unsere Begleiter schienen erfreut auf seine Worte zu reagieren. Zwei Kinder umarmten den etwas heruntergekommenen Zwerg innig, der zu Tränen gerührt dastand. So hatte ich Foret noch nie gesehen, hatte seine Einsamkeit nicht erkannt, obwohl er mir bereits sehr ans Herz gewachsen war. Wir atmeten beide tief durch, schauten Thídra an und er fragte: „Ist es möglich, den Tunnel zu besuchen, durch den ihr den Hartfels betreten hattet?“ Die Frau nickte, wandte sich zum Ausgang und führte uns diesmal schweigend durch die Stadt. Diesmal in die andere Richtung. Vom großen Versammlungsplatz gingen wir an unserem Nachtlager vorbei. Einige Eingänge danach zweigte eine Gasse ab, die sie uns entlangführte. Nur etwa zwanzig Schritte weiter mündete der Weg in einen weiteren Platz, in dessen Mitte eine quadratische Steinsäule ihren Platz einnahm. Sie ähnelte den beiden mir bekannten in Takal Dûm sehr. Ich berührte den Stein mit meinen Fingerspitzen, woraufhin Runen rötlich aufleuchteten.
„Sieben Clans in der Stadt der Ahnen.“
„Sieben Sitze im Rat der Zwerge.“
„Sieben Aufgaben für den Schmiedevater.“
„Sieben Zwerge sollt ihr sein das verborgene Reich zu finden.“
„Thídra, wisst Ihr, was es mit diesen Inschriften auf sich hat?“, fragte ich sie. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber wir können mit Brondil darüber sprechen. Ich war lange nicht in dieser Ecke der Stadt. Der Tunnel der uns hierher brachte, befindet übrigens dort.“, antwortete sie und zeigte mit ihrem Arm in die entsprechende Richtung. „Den Zugang haben wir bereits lange versiegelt, damit uns nichts und niemand aus den Tunneln überraschen kann.“, fügte sie an. „Ja, das war vernünftig. Ich möchte das Rätsel gern lösen, weil ich denke, dass dies unser versprengtes Volk wieder zusammenfinden lassen wird.“, entgegnete ich.
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