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12. Grünes Land

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Waldlichtung

 

Hellgrau begrüßte uns der Tunneleingang als wir erwachten. Der Schlaf hatte gut getan und die gestrigen Strapazen kamen uns weit entfernt vor. Wir verstauten unsere sieben Sachen, schulterten Ranzen und Bündel und gingen der Außenwelt entgegen.

Es herrschte dichter Nebel, der sofort auf unserer Kleidung Tropfen bildete, aber es regnete nicht mehr. Der Zugang war unter den dicken Wurzeln eines großen Baumes gut versteckt. Kaum hatten wir uns wenige Schritte entfernt, war von einer Höhle nichts mehr zu sehen.

Ich atmete die feuchte Luft tief ein, musste wegen des Staubes in Mund und Lungen schwer husten und übergab mich geräuschvoll. Foret war vorsichtiger und atmete langsamer als ich. „Du machst aber einen ziemlichen Radau und verscheuchst damit die Tiere.“, kommentierte er mit einem Augenzwinkern.

Langsam beruhigte sich mein Hals wieder, das Atmen fiel mir leichter. Nun konnte ich mich auf die neue Umgebung einlassen, weshalb ich meine Hände in den feuchten Waldboden grub und der Erde lauschte.

Es roch nach Pilzen, Beeren und altem Laub, eine Quelle musste sich in westlicher Richtung befinden, Tiere bewegten sich auf und in der Erde. Ich streckte meine Wahrnehmung soweit aus, wie ich nur konnte, wobei ich auf etwas stieß, das ich nicht eindeutig erfassen konnte. Es fühlte sich an, als würde es mir immer wieder aus den mentalen Fingern schlüpfen.

„Was hast du da gemacht, Daril?“, fragte Foret mich, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte. „Ich kann ‚in die Erde fühlen‘, mein Freund. Woher ich das habe, weiß ich nicht. Ich dachte bisher, dass jeder Zwerg das könne.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Er erwiderte: „Nein, das ist eher ungewöhnlich, außer für Magiekundige. Ich finde deine Fähigkeiten bemerkenswert.“ „Dafür kannst du den besten Met herstellen, was ich für bemerkenswert halte!“, konterte ich. Foret grinste mich daraufhin stolz an und wir beließen es dabei.

„Ich habe etwas wie eine Art magische Barriere entdeckt. Dort.“, informierte ich meinen Kumpan und zeigte in die entsprechende Richtung, leicht links von unserem Standort weg. „Der Zugang nach Tumunkazor dagegen, ist nur von einem leichten Schleier geschützt.“, unterrichtete ich ihn weiter. So machten wir uns auf den Weg zu meiner Entdeckung.

Schon öfter hatte ich die Magie gespürt, zum Beispiel in den Mechanismen der magisch versiegelten Türen oder als ich bei Birnai die kleine Höhle gefunden hatte, aus der mein Steinei sich gelöst hatte. Ich war nicht wirklich überrascht, aber es erstaunte mich doch irgendwie, was in mir so schlummerte. In Takal Dûm hatte ich bereits viel über meine Geschichte erfahren, doch sicher längst nicht alles.

 

Zwei beinahe identische Laubbäume, die sich von einem Zwerg mit beiden Armen umschlossen werden konnten und deren Kronen ineinander verflochten schienen, ließen sich als ein Tor betrachten. Hier fühlte ich förmlich einen Widerstand, der mich nicht zwischen die Baumstämme treten lassen wollte. Ich sah es nicht mit meinen Augen, konnte es nicht mit meinen Händen greifen, aber die Barriere war direkt vor mir und hinderte mich voranzuschreiten, wie der ausgestreckte Arm eines Riesen, dessen Hand gegen meine Brust drückte, um mir den Weg zu versperren. Nur ein Schritt, den ich rückwärts tat, nahm den Druck von mir. Ich besann mich kurz und versuchte nun, um beide Bäume herumzulaufen. Das geschah ohne Probleme. Von der anderen Seite her versuchte ich nochmals zwischen den Bäumen durchzugehen, was wieder nicht möglich war. Das Hindernis befand sich demnach nur zwischen den beiden Stämmen, die ich nun eingehender in Augenschein nahm. Gab es hier vielleicht eine Möglichkeit, die Barriere aufzulösen oder Jemandem unsere Anwesenheit zu signalisieren? Foret und ich waren beide ratlos. Mit meinen Fingerkuppen strich ich gedankenverloren über die Rinde des einen Baumes. Grüne Ranken leuchteten in der Borke auf kurz darauf verebbte das Licht wieder. Ich wandte mich an Foret: „Ich habe eine Idee. Wir sollten es genauso versuchen, wie in Takal Dûm. Wir geben uns die Hände und gleichzeitig berührt jeder von uns einen der Stämme. Es kann sein, dass uns beide grünes Licht durchfließt, aber das ist nicht schlimm. Bist du einverstanden?“ Er nickte entschlossen und wir reichten uns die Hand. Gleichzeitig berührten wir die Rinde der Bäume und das Schauspiel begann.

Als würden Pflanzen aus den Baumstämmen wachsen durchströmte sie in gewundenen Adern das grüne Leuchten, das kurz darauf auch uns zwei Zwerge erfasste und mit dem erreichen unserer Herzen sanft pulsierte. Es schien ein Wasserspiegel vor uns in der Luft zu entstehen, die Barriere wich einem Portal und wir fielen mit dem Gesicht voran hindurch. Wir landeten auf den Bäuchen in weichem Moos und mussten uns aufrappeln, um nicht für allgemeine Belustigung zu sorgen, falls uns jemand sah.

Verwundert sah ich in angenehm helles Licht und atmete klare Luft, die ich problemlos tief einsog. Wir befanden uns auf einer von Bäumen umsäumten Lichtung, saftiges Grün und bunte Blumen wuchsen üppig um uns herum. Hinter uns befand sich das Tor aus dem wir gekippt waren. Es sah genauso aus, wie jenes auf der anderen Seite. Besser weiß ich es einfach nicht zu umschreiben, weil ich in diesem Moment nicht wusste, wo wir angekommen waren.

Aus der Ferne näherte sich eine menschliche Gestalt mit eleganten Schritten, sie schien fast zu schweben. Die hochgewachsene Person machte einige Schritte vor uns Halt. Ihr blasses, fein geschnittenes Gesicht und die auffallend langen Ohrspitzen wiesen sie als elfisch aus, das Geschlecht erschloss sich mir nicht im ersten Moment des Aufeinandertreffens. Wir wurden auf Khuzdul mit starkem Akzent angesprochen: „Willkommen Khazâd in der Zuflucht der Elfen. Euer geschickter Umgang mit der Magie gewährte euch den Zutritt und das Tor signalisierte uns eurer Erscheinen. Wir freuen uns über euren Besuch. Haldor werde ich genannt und ich führe euch zu meinen Leuten. Wenn ihr mir nun folgen würdet.“ Das Wesen machte mit dem letzten Wort eine einladende Geste und wir folgten ihm vorsichtigen Schrittes. Haldors bodenlanges Gewand ließ ihn weiterhin schwebend erscheinen, denn nicht ein einziger Halm knickte unter ihm. Unsere zwergischen Schritte dagegen zertrampelten das Grün unter den Füßen.

„Diese Lichtung war einst der Marktplatz aller Völker, ebenso wie euer Platz am großen Tor von Takal Dûm. Viel Zeit ist seit jenen guten Tagen vergangen. Wir glaubten, dass die Khazâd verschwunden wären. Heute wurden wir eines Besseren belehrt. Einige wenige Elfen sprechen noch die zwergische Sprache. Ich zähle zu den drei Kuratoren, die Sprache und Schrift studieren, um sie zu erhalten. Deshalb wurde ich geschickt, euch zu empfangen.“, sprach Haldor während wir dem Elfen folgten. Seine Stimme hallte in unseren Köpfen nach. So erreichten wir den Rand der Lichtung, wo Bauten aus Holz zwischen den Bäumen und in deren Ästen zu sehen waren. So funktional die Architektur war, so verspielt war die künstlerische Gestaltung der Gebäude auch. Der Hang zu floralen Mustern war unverkennbar. Das erinnerte mich wiederum an das Ende meiner ersten Fahrt mit einer Lorenbahn, die in einem Ahornbaum endete.

„Entschuldigt Haldor, ich habe eine Frage. Hat euer Volk mit den magischen Ahornbäumen zu tun?“, sprach ich den Elfen an. „Ja, nicht weit vom Tor ist eine alte Bahnstation der Khazâd, deren Zugang durch einen Ahorn führt. Der Baum war unser Geschenk an die Zwerge. In vielen Wäldern gibt es versteckte Rastplätze, die unter unserem Schutze stehen.“, bekam ich als Antwort. Ich erinnerte mich gut an Iwan und sein Rasthaus. „Auf meinem Weg nach Takal Dûm bewirtete mich Iwan ausgesprochen gut. Seine Herberge ist wohl auch elfischen Ursprungs, denke ich.“ „Das stimmt.“, bestätigte Haldor. „Sollte dem verborgenen Rasthaus und seinem Wächter etwas zustoßen, werden wir benachrichtigt. Das war bisher aber nie der Fall gewesen, denn Iwan ist sehr umsichtig.“

Nun verstand ich einige Zusammenhänge besser und das Netzwerk aus elfischen und zwergischen Errungenschaften machte viel mehr Sinn, als ich bisher annahm.

„Wir sind angekommen, werte Gäste. Hier leben die letzten Elfen diesseits des großen Eises. Unsere Ersten wollen euch kennenlernen.“, proklamierte Haldor mit fester Stimme. Aus dem ebenerdigen Haus vor uns traten zwei schlanke Elfen heraus und nickten uns zu. Wir nahmen die stumme Einladung an und betraten das kunstvoll gestaltete Gebäude.

Man wies uns mit einer Geste an, Platz zu nehmen. Auf dem Boden lagen Kissen, die dazu einluden. Foret und ich setzten uns den beiden gegenüber und grüßten sie mit einer leichten Verbeugung. „Mein Name ist Daril und dies ist Foret. Wir kommen aus Takal Dûm und fanden euer Tor, nachdem wir die Tunnel von Tumunkazor verlassen hatten. In mir wohnt die Gabe der Magie, die mich darauf aufmerksam machte.“, stellte ich uns kurz vor.

Ihre Stimmen hallten in meinem Kopf wider, nicht in meinen Ohren. „Wir sind die Ersten, Veynir und Vaya. Es gibt uns so lange es die Elfen gibt, wir sind der Beginn und das Ende unseres Volkes. Viel Zeit ist vergangen, seit wir zuletzt von den Zwergen gehört hatten. Es schien uns, ihr hattet uns vergessen.“, manifestierte es sich innerhalb meiner Gedanken. Ich sprach aus, was ich dachte: „Die Angst vor aggressiven Menschen bewegte unser Volk zur Flucht aus Takal Dûm. Das ist vor fast fünf zwergischen Generationen geschehen und wir versprengten in alle Himmelsrichtungen. Foret und ich versuchen den Weg unserer Vorfahren nachzuvollziehen.“ In Gedanken berichtete ich ihnen meine gesamte Geschichte, die Foret ja bereits kannte. „Eine bemerkenswerte Geschichte, werter Daril.“, vernahm ich in meinem Kopf Vayas Stimme. „Ihr seid auserkoren, eine große Bürde zu tragen, die gleichsam auch Erfüllung sein kann. Handelt weise und unverdrossen, dann erlangt Ihr Glück.“, war ihre orakelhafte Anmerkung auf meine Ausführungen.

„Das erklärt die ausbleibenden Einladungen zum großen Markt von Takal Dûm. Dass es eine Siedlung eures Volkes ganz in unserer Nähe gibt, war uns nicht bekannt. Nur selten verlassen unsere Kinder dieses Refugium, um sich in der Außenwelt umzusehen.“, ergänzte Veynir tonlos. Gemeinsam boten sie uns ihre Gastfreundschaft an, solange wir sie in Anspruch nehmen wollten.

Haldor nahm uns nach der Audienz wieder in Empfang und führte uns durch das kleine Dorf.

Hier in dieser magischen Blase war ausnahmslos alles friedlich und die Bewohner freundlich. Um das kleine Dorf herum bauten die Elfen Getreide und Gemüse an, wovon sie sich ernährten. Fleisch gehörte nicht zu ihrem Speiseplan.

„Ursprünglich waren wir Elfen die Hüter der Wälder und deren Geschöpfe, bis auch wir uns von der Menschenwelt abwandten. Den Schäden, die die Menschen den Wäldern antaten, konnten wir nicht mehr nachkommen und eine Konfrontation wollten die Ersten nicht. Deshalb zogen wir uns zurück.“, berichtete Haldor während wir gemeinsam durch den kleinen Ort gingen. Ich zählte nicht mehr als dreißig Hütten am Boden und in den Bäumen befanden sich weitere acht Behausungen. In der Mitte des Dorfes war ein Gemeinschaftsplatz angelegt worden, mit Sitzbänken, einer großen Kochstelle und Werkstätten. Hier trafen sich alle Bewohner, um füreinander zu sorgen. „Haldor, gewährt mir bitte eine Frage.“; bat ich unseren Begleiter. Er nickte wohlwollend. „Wie kommt es, dass ich hier keine Kinder sehe?“, fragte ich ihn direkt. Besonnen und freundlich antwortete er: “Wir Elfen altern bis zu einem bestimmten Punkt, aber wir sterben keines natürlichen Todes. Würden wir viele Kinder zeugen, beraubten wir uns selbst unserer Lebensgrundlage. Unsere Gemeinschaft zählt seit jeher einhundertzweiundzwanzig Individuen. Sollte einer von uns getötet werden, sorgen wir für Nachwuchs, sonst nicht.“

In meinen Ohren hörte sich diese Erklärung vernünftig an. Wenn die Alten nicht sterben, würde eine unkontrollierte Vermehrung recht schnell zu einer Überbevölkerung führen.

„Danke, das verstehe ich.“, entgegnete ich.

Foret blieb die gesamt Zeit recht still, aber er beobachtete alles um sich herum genau mit einem skeptisch abschätzenden Blick. Er erhob leise und gebrochen die Stimme: „Ein Zwergenpaar sorgte früher immer für zwei Nachkommen, um die Population stabil zu halten. Wir mögen langlebig sein, aber nicht unsterblich, wie ihr Elfen. Meine Schwester starb vor längerer Zeit bei einem Mineneinsturz.“ Verstohlen wischte er sich mit dem Hemdsärmel eine Träne aus dem Gesicht.

„Takal Dûm ist nun ganz verlassen, seitdem Foret und ich fortgegangen waren. Wir sind unseren Brüdern und Schwestern auf der Spur, damit die Geschichte unseres Volkes nicht in Vergessenheit gerät. Alle zwergischen Hinterlassenschaften, die wir entdeckten, waren wie leergefegt. Der Krakonoš bewohnt mit seinen Dienern noch eine Zwergenfestung, doch die Steingeborenen sind von dort auch seit Langem weggegangen. Wir folgen jedem Hinweis, der sich uns offenbart.“, fügte ich hinzu.

Wir setzten uns auf dem Dorfplatz in geflochtene Sessel und ich sah mich ziellos um.

Mit traurigem Blick musterte Haldor uns. „Die Menschen haben unseren beiden Völkern das Vertrauen ineinander genommen und Angst in der gesamten Welt verbreitet. Alle mir bekannten magischen Wesen leben heute versteckt und abgeschieden, weil sie die Menschen meiden. Ich bin froh, dass ihr beide den Weg zu uns gefunden habt. Das gibt den verbliebenen Elfen Hoffnung auf bessere Zeiten.“, erklärte er. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine schmalen Lippen.

Weitere Elfen kamen zur Mitte ihrer Siedlung. Sie unterhielten sich angeregt, grüßten einander und gingen ihrem üblichen Tagesablauf nach. Keine der anwesenden Personen schien sich an unserem Erscheinen zu stören. Nach einer Weile ergriff Haldor das Wort und wandte sich in seiner Sprache den anderen Elfen zu, die Foret und mir neutral zunickten. Das entsprach meinem Bild dieses Volkes; freundlich, distanziert und unaufdringlich.

Eine Frau lächelte aber offen und herzlich. Sie stand auf und verschwand kurz darauf in einer der Hütten. Als sie zurückkam hielt sie eine große hölzerne Schale in ihren Händen, die sie geradewegs zu uns brachte. „Brot und Gemüsepaste für die Gäste.“, übersetzte Haldor die leisen Worte der Elfin, die mich wieder anlächelte. „Linnarhan ist eine gute Köchin kümmert sich federführend um die tägliche Verpflegung unserer Gemeinschaft. Sie ist meine Tochter.“ Alles, was ich entgegnen konnte, war ein geflüstertes „ Akhmini.“.

Linnarhan stellte die Schale zu unseren Füßen ab und entfernte sich wieder wortlos, immer noch lächelnd. Alsbald kam sie mit einem Krug voll Wasser und einigen Bechern zurück, schenkte ein und reichte Foret, mir und ihrem Vater je einen gefüllten Becher.

Den Rest des Abends sprachen wir mit Haldor, füllten unsere Mägen und saßen einfach am gemeinschaftlichen Feuer. Der Elf musste bemerkt haben, dass mich langsam die Müdigkeit überkam. Er fragte, ob er uns zu unserem Nachtquartier bringen dürfte. Foret und ich nickten im Einklang. Wir standen auf und folgten Haldor, der uns geradewegs zur nächsten Hütte geleitete. Dort drückte er uns je eine gerollte Decke in die Hände, die in Gänze zweimal um mich herum reichte. Der Boden des Gebäudes bestand aus verflochtenem Gras. Es roch nach Heu und es fühlte sich fest und weich zugleich an, als ich mich in die Decke gemummelt einfach hinlegte. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Schlafsack auf einer Wiese liegen und ich schlief schnell ein.

 

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