Als ich mich dort seufzend niederließ hörte ich eine weibliche Stimme irgendwo hinter mir sagen: “Dobry wieczór, mały człowiek.”
Auf der Stelle erstarrte ich zu Stein und das Herz rutschte mir in die Hose. Ich war entdeckt worden! Die Sprache klang dem Tschechischen ähnlich und ich verstand das Gesagte. “Guten Abend, kleiner Mann.”, bedeutete es. Ich blieb steif sitzen, wartete darauf, was geschehen mochte. Eine menschlich aussehende Frau erschien in meinem Blickfeld. Schmal und groß, doch kräftig, mit einem Umhang bekleidet, der mit seiner Kapuze das Gesicht verdeckte, stand sie dann vor mir. Ich zögerte, tat einfach nichts. “Na komm, ich tu dir nichts, Karzeł.” konnte ich verstehen. Es musste Polnisch oder Schlesisch sein, was sie sprach.
Dann schlug sie ihre Kapuze zurück und schaute mich mit eisblauen Augen neugierig an. “Karzeł. Karlik. Permoník. Skrček. Trpaslík.”, sprach sie einzelne Worte zu mir. Jetzt verstand ich es! Alle diese Worte bedeuteten “Zwerg” oder “Wicht”. Ich gewann an Fassung, richtete mich zu voller Größe auf und sagte auf Tschechisch: “Ano, jsem permoník. Jak to víš a kdo jsi? Verdammt nochmal.” (“Ja, ich bin ein Zwerg. Woher wissen Sie das und wer sind Sie? ...”) Sie antwortete mir auf Deutsch mit slawischem Akzent: “Mein Name ist Hyrasha. Und wie ist dein Name, kleiner Mann?” Sie löste ihren langen dunkelblonden Zopf, den sie sich sich am Hinterkopf festgesteckt hatte und ein leichtes Lächeln zeigte sich in ihren ernsten Zügen.
“Man nannte mich vor Kurzem noch Daril, werte Frau. Woher wissen Sie, was ich bin?”
Meine Neugier war geweckt, diese neue Bekanntschaft schien Interessantes mit sich zu bringen.
“Soso, der junge Permoník ist also ein Geschenk oder hat eine Gabe.”, orakelte Hyrasha. Ich wusste nichts zu entgegnen und schaute die ungewöhnliche Frau interessiert an. Der grobe dunkelbraune Umhang reichte ihr bis zu den Knien und war groß genug, sie im Sitzen ganz zu umhüllen. Sie trug schwere schwarze Stiefel, eine eng anliegende Lederhose und einen festen Lederpanzer am Leib. Ein Schwert baumelte an ihrer linken Seite. Eine Schwertkämpferin im zwanzigsten Jahrhundert? Das war mehr als ungewöhnlich. Sie schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen, so wie auch ich. Dennoch hatte sie junge Gesichtszüge, aber uralte weise eisblaue Augen. Ihr sehr langes dunkelblondes Haar war zu drei Zöpfen geflochten, zwei dünnen rechts und links, die an den Schläfen baumelten, sowie einem breiten, der lang über dem Rücken hing, den sie nun nach vorn über die Schulter legte. Eine durchweg imposante Erscheinung, beinahe viermal größer als ich es war.
“Wollen wir hier rasten und ausruhen?”, fragte ich frech. Der Hunger machte sich in mir breit, die gesammelten Pilze warteten auf Zubereitung. “Ich würde auch das Essen mit Ihnen teilen.”, lockte ich sie und schaute ihr herausfordernd ins Gesicht. Sie lächelte nochmals zaghaft und entgegnete: ”Ein Zwerg, der teilen möchte, das ist mir neu, Daril. Ich tu dir nichts, Permoník, du darfst mich als Vertraute anreden. Lang ist es her, dass ich einen deiner Art zuletzt sah, wohl zweihundertfünfzig Jahre oder mehr.” “Dann bist du kein Mensch!”, entfuhr es mir. “Zumindest nicht ganz. Ich werde es dir erzählen, wenn die Zeit reif ist.”, war ihre Antwort.
Die Nacht wechselte zum Morgen. Während ich die Pilze in die Ampferblätter einwickelte, errichtete Hyrasha das Lagerfeuer aus trockenen Zweigen. Sie war geschickt und sicher schon oft allein in der Welt unterwegs gewesen. Ihre Kleidung mutete für diese Zeit archaisch an. Also saßen wir am frühen Morgen unter den Bäumen an einem kleinen Feuer und aßen gedünstete Pilze. Einfache Kost, doch so lecker! Die Frau, deren Alter ich beim besten Willen nicht einzuschätzen vermochte, zog einen Trinkschlauch unter dem Umhang hervor und bot mir an, davon zu trinken. Nach einer ganzen Nacht ohne Wasser tat das sehr gut. Ich sollte mir alsbald eine Feldflasche oder etwas Ähnliches besorgen.
Nach dem Imbiss suchte ich mir schnell ein paar Dinge für einen Unterschlupf zusammen, um etwas schlafen zu können, Hyrasha beobachtete mich aufmerksam.
Sie schlug den Umhang um sich, ich kroch unter die Äste und Blätter und schlief schnell ein.
Es war dunkel, als mich ein nahes Rascheln aufschrecken ließ. Der Ruf eines Käuzchens hallte durch die Nacht.
Schlaftrunken lugte ich unter den Blättern hervor. Die Kriegerin war verschwunden. Im Waldboden waren die Abdrücke ihrer Stiefel zu erkennen. Ein Igel bewegte sich schnuppernd durch das Moos.
Meine Sinne schärften sich, leise nahm ich Hyrashas Spur auf und folgte ihr bis zu einem Pfad, der sich durch den Wald wand. Hier wurde es schwieriger, aber rechts von mir, den Weg entlang, bemerkte ich geknickte Zweige in meiner Augenhöhe und gelegentlich eine Trittspur ihrer Stiefel. Sie wollte wohl, dass ich sie finde.
Ein Schrei. “Halt! Stehenbleiben!”, rief eine männliche Stimme auf deutsch aus einiger Entfernung. Ein Schuss durchbrach laut die ansonsten stille Nacht. Ich rannte den Geräuschen entgegen.
Ich stolperte, fiel und landete recht weich mit meinem Bauch - auf einem Körper. Es war Hyrasha, stelle ich überrascht fest. “Was ist mit dir? Kann ich helfen?”, fragte ich panisch. Sie öffnete die Augen und lächelte mir einfach ins Gesicht. “Daril, geh nach Südwesten, dem Riesengebirge entgegen. Finde Rübezahl! Frage die Menschen nach ihm. Sie kennen seine Geschichte. Lass mich zurück. Wir werden uns wiedersehen.”
Also lief ich los, Menschen zu finden.
Als letzter der Zwerge blieb mir keine andere Wahl.
Manche hörten mir zu, andere jagten mich hinaus in die Nacht.
Doch ich fand Freunde, mit denen ich gemeinsam für das Gute kämpfen konnte.
Aber dennoch werde ich alles schön der Reihe nach erzählen.
Nochmals hörte ich die Männerstimme heiser rufen: ”Ist da wer? Meine Schafe bekommt niemand!” Daraufhin wurde um uns herum wieder ruhig. Hyrasha schien sich aufzulösen, verschwand einfach und hinterließ nur den Abdruck ihres Körpers auf dem Waldboden.
Magie!
Mit großen Augen schaute ich noch einige Augenblicke lang auf die Stelle, wo eben noch die angeschossene Frau lag.
Nun war ich wieder auf mich allein gestellt, doch Hyrashas Versprechen hallte mir noch lange im Kopf nach.”Wir werden uns wiedersehen.”
Langsam und bedächtig machte ich mich auf den Rückweg zum Lagerplatz. Schlaf vermochte ich in dieser Nacht nicht mehr zu finden, deshalb packte ich alles sorgsam zusammen, verwischte möglichst alle Spuren unserer Anwesenheit und machte mich erneut auf den Weg in Richtung Südwesten, um diesen Rübezahl zu finden.
Ich blieb im Wald, um nicht entdeckt zu werden. Wohin mich die Füße gerade trugen, wusste ich nicht, aber mit dem Sonnenaufgang würde ich sehen, ob ich die richtige Richtung eingeschlagen hatte.
Und ja, als sich fahl die Morgendämmerung andeutete und die ersten Vögel erwachten, erkannte ich, dass ich in der richtigen Richtung unterwegs war. Mit der Sonne im Rücken zog ich weiter. Wälder, Felder wechselten einander ab, Bachläufe und Bewässerungsgräben durchbrachen die Eintönigkeit. Wie groß meine bereits zurückgelegt Strecke war, seitdem ich das Heerlager der Wehrmacht verlassen hatte, wusste ich nicht.
Ich sollte mich den Menschen offenbaren und sie nach Rübezahl fragen.
Wer mochte das sein? Diesen Namen hörte ich zum ersten Mal, die Menschen sollten ihn aber wohl kennen.
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