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Der Postzwerg

Ein Dunkeleisenzwerg mit glühender Rüstung und einem Bogen auf dem Rücken.
Mein WoW-Charakter Dardil

 

 

01. Der neue Postbote

 

Der kleine bärtige Mann ging flinken Fußes von Haus zu Haus, warf Dinge in Briefkästen, drückte auf manche Klingel und wartete vor der Tür, dass sie geöffnet wurde.

Auf seinem Rücken hatte er einen Tragekorb geschnallt, der ihn weit überragte. Mit einem Fingerzeig auf den Korb leuchtete dieser kurz auf, als würde man Glitter darauf streuen und ein Päckchen schwebte oben aus der Korböffnung direkt in seine Hände.

Die Pforte, vor der er nun stand wurde zögerlich geöffnet. Der Mann grüßte freundlich und stellte sich der verwundert schauenden Frau vor. „Guten Tag, ich bin ab heute ihr Postzwerg hier im Dorf. Daril ist mein Name. Ich bringe ihnen ein Paket.“ Die Miene der Frau erhellte sich. Hinter ihren Beinen lugten neugierig zwei junge Gesichter hervor, die den Postzwerg angrinsten. „Mach auf, Mama!“, sagte das kleinere Mädchen, das größere Kind war auch neugierig. „Was ist denn da drin?“, wollte es von ihm wissen.

Daril lachte erfreut. „Was darin ist, weiß ich nicht. Ich bringe nur die Pakete, denn ich bin der Postzwerg. Mich erkennt ihr an meinem langen Bart und ich bin nicht so groß wie die anderen Leute. Morgen komme ich wieder und verteile Briefe, Päckchen und all das im Dorf. Wir sehen uns wieder!“ Er zog kurz die Mütze zum Abschiedsgruß und setzte seine Route fort.

 

02. Das Haus am Wald

 

Sein Zustellgang führte ihn die Straße aus Kopfsteinpflaster hinauf, die eine Linkskurve beschrieb, in deren Scheitelpunkt ein kleinerer Waldweg abzweigte, dem er folgen musste, um das nächste Haus zu erreichen. Am Waldrand stand das kleine aus Bruchsteinen erbaute Haus. Ein grün gestrichener Lattenzaun umgab das Grundstück, von dem unablässiges Hühnergackern erklang. Der Postzwerg öffnete die kleine Tür der Umzäunung und schritt zügig über den Hof, warf zwei Briefe in den hölzernen Kasten neben der Haustür und verschwand eilig wieder vom Gelände. Etwas erschien ihm unheimlich an diesem Ort. 

Zurück auf der Straße atmete er tief durch, besann sich kurz und ging weiter seines Weges.

Seine Umhängetasche mit den Briefen und die Hucke mit den Paketen leerten sich zusehends, je weiter der bärtige Kerl vorankam. Kurz vor dem Ende seiner Runde durch das Dorf begann sich der Himmel zuzuziehen und Nieselregen fiel in Fäden aus den dichten Wolken. Nun beeilte sich der Postmann, dass er noch die verbliebenen Sendungen zu den letzten drei Häusern brachte, um dann den Korb und sich selbst wetterfest zu machen, bevor er sich auf den Rückweg zum Postamt machte.

 

03. Die Geburtstagsüberraschung

 

Ein neuer Tag hatte begonnen. Der fleißige Postzwerg Daril verstaute gerade die vorsortierten Briefsendungen in seiner Umhängetasche und machte sich bereit, die Pakete und Päckchen für seine Tour zu ordnen. Er sang fröhlich vor sich hin, denn die Sonne schien und es versprach ein angenehmer Zustellgang zu werden. Mit einem magischen Fingerzeig des Postboten flogen die Sendungen von mystischem Glitzer getragen in seine Kiepe hinein. Schön in umgekehrter Reihenfolge, dass das erste zuzustellende Paket auch ganz oben lag. Unordnung konnte der kleine Kerl mit dem langen geflochtenen Bart am wenigsten leiden. Als er nun all seine Sachen beisammen hatte, schulterte er seine Hucke und machte sich auf den Weg ins Dörflein.

Auch heute führte sein Weg ihn zum Haus der jungen Familie, denen er einige Briefe und ein kleines Päckchen zustellen sollte. Er klingelte pflichtbewusst und wartete, bis ihm die Tür geöffnet wurde. Diesmal stand ein junger Mann vor ihm, die beiden bekannten Kinder lugten hinter ihm aus der Stube und freuten sich, den Postzwerg zu sehen. Er übergab dem Mann die Sendungen und wandte sich den beiden kleinen Mädchen zu. Eines trug ein Papierkrönchen auf dem Kopf „Hallo ihr beiden!“, grüßte er sie. „Oh, eine Prinzessin.“, reagierte der Zwerg prompt und machte eine tiefe Verbeugung vor dem Kind, das daraufhin laut zu lachen begann. „Ich habe heute Geburtstag!“, platzte es aus ihr heraus und rannte ihm entgegen, um ihn  zu umarmen. Daril drückte die Kleine lieb und wünschte ihr „Alles Gute!“

Plötzlich spürte er ein Ruckeln aus seinem Tragekorb, das ihn nach vorn stieß und beinahe zum Stolpern brachte. Wieder ein Ruck, dieses Mal zu Seite. „Da stimmt etwas mit dem Postkorb nicht.“, bemerkte er verwundert. In hohem Bogen flog eine reich beschlagene kleine Holzkiste aus der Hucke direkt in seine Hände, die er noch rechtzeitig hinhalten konnte. „Mein Korb meint, du solltest ein Geschenk bekommen zu deinem Ehrentag.“, sagte der Zwerg und überreichte das Kästchen dem Kind, das glücklich lächelte und den dicklichen Mann nochmals umarmte.

„Nun muss ich aber weiter, die anderen Leute warten auch auf ihre Post. Wenn ich morgen wieder vorbeikomme, muss du mir erzählen, was du in der Truhe gefunden hast!“ Das Mädchen, Elisa, versprach ihm, davon zu berichten.

Der Postzwerg winkte zum Abschied und nahm seine Route wieder auf.

Darils weiterer Arbeitstag hielt für ihn keine weiteren Überraschungen bereit.

Weiße fluffige Wolken zogen über den Himmel und die Sonne zog ihre vorgegebene Bahn wie schon seit Ewigkeiten. Die Dorfbewohner grüßten immer freundlich, wenn sie ihn sahen, manche winkten sogar von Weitem. Ein Gruß und ein nettes Wort wurden an jeder Tür gewechselt, die sich nach dem Klingeln des Postzwerges für ihn öffnete, wenn er den Leuten ihre Sendungen brachte. An diesem Tag leerten sich sein großer Korb und seine Posttasche recht schnell und am Nachmittag konnte er sich bereits auf den Rückweg zum Postamt machen. Es blieb ihm dort sogar noch Zeit für einen Tee und Kuchen.

 

04. Ein alter Zwergenschatz

 

Der Freitag begann wolkenverhangen aber ohne Regen. Als Daril den Hof des Postamts betrat, lieferte ein Lastkraftwagen bereits die Briefpost. Er half beim Entladen, wofür der Fahrer sich bedankte. Nun mussten die Briefe, Zeitungen und Magazine sortiert werden, damit sie auch in der richtigen Reihenfolge in die Posttasche gepackt werden konnten. Ein Durcheinander wäre nur ärgerlich.

Später kam ein weiterer Lieferwagen an, der die Paketsendungen für diesen Tag brachte. Nachdem der große Korb wieder aufgefüllt war, ging es wieder los für den gutgelaunten kleinen Bartträger.

Heute hatte er zwar kein Paket für die Familie von Elisa, aber er war neugierig, was in der kleinen Truhe gewesen war, die seine Hucke für das Mädchen als Geschenk hervorgebracht hatte. Als er nun das Haus auf der Route durch das Dorf erreichte, klingelte er, weil er ja versprochen hatte, sich nach dem Inhalt des Kästchen zu erkundigen. Elisa öffnete ihm aufgeregt die Tür, ihre Mutter stand lächelnd hinter ihr und die größere Schwester war auch dabei, welche die Truhe in den Händen trug.

„Postzwerg Daril, schön, dass du da bist! In der Truhe war etwas drin, schau!“, rief sie aufgeregt und hielt mir einen silbernen Kettenanhänger entgegen. Der Deckel des Medaillons war mit zwergischen Runen beschriftet, die ein „F“ und ein „S“ darstellten.

„Fargal Silberzahn“, murmelte ich vor mich hin. „Wer ist das, dieser Silberzahn?“, wollte Elisa wissen. Daril dachte angestrengt nach. Er wusste, dass er diesen Namen schon einmal gehört hatte und überlegte. „Fargal war einst einer der größten Kunstschmiede der Zwerge. Dieser Anhänger ist einzigartig und schau, er lässt sich öffnen.“, erklärte der Postbote und klappte das Medaillon mit einem Klicken auf. 

Ein Stück Pergament fiel dabei zu Boden, das das Mädchen sofort aufhob und vorsichtig auffaltete. Elisa staunte und ihre Schwester ließ die kleine Truhe vor Aufregung fallen. „Kannst du uns sagen, was da drauf steht, Daril?“, bat Vanessa, die Größere der beiden. Er nickte und nahm von der jüngeren Schwester das Papier entgegen. Das ganze Blatt war nicht viel größer als die Handfläche des Zwerges und mit Runen vollgeschrieben, die sich auf kleine, in den vier Ecken verteilte Zeichnungen bezogen. Seine Augen leuchteten plötzlich auf. „Das ist eine Art Schatzkarte. Fargal hatte nichts hinterlassen, als er starb. Hier beschreibt er, wie man sein Vermächtnis finden kann. Ich bin sprachlos.“, erklärte der kleine Mann.

 

„Bitte hebt die Truhe und den Brief auf. Morgen muss ich nicht arbeiten. Wenn ihr wollt und eure Eltern es erlauben, komme ich dann hierher, um euch den ganzen Text vorzulesen und wir können herausfinden, wo sich Fargals Schatz befindet.“

Die Mutter nickte und versprach den Kindern und dem Postzwerg, dass sie gemeinsam den Dingen auf den Grund gehen durften. „Morgen am Vormittag bin ich wieder hier.“, bestätigte Daril und wünschte der Familie einen schönen Tag.

Nach getaner Arbeit machte sich der Postzwerg auf den Heimweg. Am Abend besuchte er die Zwergentaverne des kleinen Städtchens, um dort wie jede Woche seine Freunde zu treffen. Dort sprachen sie über die vergangene Woche und unterhielten sich mit gemeinsamen Brettspielen. Als Daril im Gespräch den Namen des Kunstschmiedes  Fargal Silberzahn fallen ließ, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill um ihn herum und alle im Schankraum schauten auf ihn. Ein älterer Zwerg mit graubraunem Bart und dünnem Haar richtete das Wort an ihn. „Fargal machte zwar gute Arbeit, aber er hatte kein Herz für seine Mitzwerge. Lass die Geschichte ruhen, sonst holt sein Geist dich in seine Höhle, der du nie wieder entrinnen wirst.“, prophezeite Dulgir, der den Schmiedemeister noch gekannt zu haben schien.

Nachdem sich die Anwesenden wieder von Daril abgewendet hatten, erklangen allmählich wieder die gewohnten Geräusche von redenden Leuten und klappernden Gläsern im Wirtshaus.

 

05. Ein früher Zwerg

 

Am nächsten Morgen packte der junge Postzwerg allerlei Kram in seinen Rucksack. Zwei Brote und eine Trinkflasche voll Wasser waren genauso dabei wie ein Hammer, eine Lupe, ein Schreibblock und ein Stift. Dann machte er sich auf den Weg zum Haus von Elisas Familie.

Als er dort ankam, klopfte Daril aufgeregt an die Tür des Haus und klingelte Sturm. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, denn er hatte sich sehr beeilt, um das Geheimnis der Truhe zu erkunden. Seine Neugier und die Vorfreude hatten ihn in der Nacht auch kaum schlafen lassen.

Müde öffnete die Mutter der Mädchen die Tür. „Daril, du bist zu früh!“, beschwerte sie sich verschlafen bei dem kleinen Mann. Aber sie ließ ihn herein und am Küchentisch Platz nehmen. Elisa und Vanessa rannten in ihren Schlafanzügen durch die Wohnung begrüßten ihn stürmisch. Das ältere Mädchen stellte ihm die Holztruhe auf den Tisch und Elisa legte den vergilbten Zettel daneben. „Da kannst du schon mal lesen, bis wir wiederkommen.“, erklärte sie knapp und die Schwestern verschwanden daraufhin im Badezimmer.

Eines der Füßchen fehlte an der Truhe. Vermutlich war es abgebrochen, als Vanessa sie fallen gelassen hatte. Daril schaute sie sich näher an, um festzustellen, ob er das womöglich reparieren konnte. Da bemerkte er, dass der Boden locker war. Die anderen drei Füße ließen sich einfach abziehen, denn sie waren nur stramm in den Boden gesteckt worden. Die dünne Holzplatte konnte er dann einfach abnehmen. Dahinter verbarg sich ein Fach, das eine Feder und einen weiteren Zettel enthielt. Der Zwerg legte die Sachen beiseite, denn er wollte gemeinsam mit den Kindern deren Bedeutung herausfinden.

Es dauerte nicht lange, bis Elisa wieder bei ihm erschien, Vanessa folgte kurz darauf mit ihrem Vater, der humpelte. „Nur eine Sportverletzung.“, murmelte er und grüßte den Postboten knapp. Die Mutter kümmerte sich in der Zwischenzeit um das Frühstück und beauftragte die Kinder unterdessen den Tisch zu decken. „Nach dem Frühstück habt ihr immer noch genug Zeit, auf Schatzsuche zu gehen!“, meinte sie. Daril räumte die bisherige Beute in die Truhe hinein, damit auch nichts verloren ging. 

 

06. Der Brief

 

Für die jungen Leute war es selbstverständlich, dass Daril mit ihnen gemeinsam frühstückte, der Zwerg hielt sich aber zurück. Er half hinterher auch beim Abräumen. 

Als der Tisch wieder sauber war, holte er die kleine Truhe wieder hervor und breitete den Inhalt aus. 

Er berichtete, was er vor dem Essen gefunden hatte: „Ich dachte, das Kästchen wäre kaputt, aber da war ein Deckel, unter dem ich das hier gefunden habe.“ Dabei zeigte er den Kindern die neuen Sachen. Das Medaillon, Fargals Brief, eine Taubenfeder und der Zettel aus dem Bodenfach lagen nun nebeneinander, damit man sie näher anschauen konnte.

„Ich glaube, ich beginne damit, dass ich euch den Brief des Meisters vorlese.“, schlug Daril vor. Die Kinder nickten eifrig und setzten sich auf die Stühle rechts und links neben ihm. Die Eltern beschäftigten sich anderweitig.

„Ich, Fargal Silberzahn, wurde von den anderen Zwergen schon immer als sonderbar bezeichnet. Meine Kunst wussten sie immer zu schätzen, aber sie teilten nie meine Ansichten. Deshalb versteckte ich meine Habseligkeiten, damit sie jemand findet, der sich als würdig erweist.

 

Das Amulett öffnet das Tor zu meinem Hort, den die Ahnungslosen fürchten.

Das X zeigt dir den Beginn des Weges, der im Wald seinen Anfang hat.

Von Osten her, wo die Sonne erwacht, kommt der Steinriese gelaufen.

Vom Norden scheint der letzte Strahl durch das Tal.

Im Süden steht der älteste Baum, der seinen Schatten wirft.

Das Wasser im Westen ist der Spiegel der Seele.

Vergesst das Fliegen nicht!“

 

In den Ecken des Blattes fanden sich kleine Zeichnungen.

Oben links war ein blauer Fleck zu sehen. „Das ist der See!“, rief Vanessa.

In der unteren Ecke war ein graues Männlein hingekritzelt worden. „Der Riese.“, meinte Elisa beeindruckt und zeigte mit dem Finger darauf. Die andere Ecke am unteren Rand zierte ein Tannenbaum. Das letzte Bildchen in der rechten oberen Ecke konnte ein „V“ darstellen, mit etwas Fantasie aber auch ein Flusstal.

Daril kramte den Schreibblock und den Stift aus seinem Rucksack und übertrug die Symbole auf ein frisches Blatt. Anschließend verband er die gegenüber liegenden Ecken mit einem Strich. In der Mitte entstand so ganz einfach ein großes X.

 

07. Die Taubenfeder

 

Elisa wurde ganz aufgeregt bei all dem. „Und was ist nun mit der Feder? Die hat doch bestimmt etwas mit dem Fliegen zu tun!“, mutmaßte sie. Vanessa nahm das noch zusammengefaltete Papier an sich und klappte es auf. „Das kann ich sogar lesen und die Schrift ist voll schön!“, staunte sie erfreut. „Lies vor, lies vor!“, drängelte ihre Schwester.

„Liebster Fargal,

ich schenke dir diese magische Taubenfeder, damit du mich immer besuchen kannst, auch wenn viele Meilen uns trennen sollten.

Einmal am Tag verleiht sie dir die Fähigkeit, dich schnell wie der Wind zu bewegen, hoch zu springen oder kurze Strecken zu fliegen. Je nachdem, was du dir wünschst, wenn du die Feder an deinen Hut steckst.

In Liebe, deine Waldfee Yara.“

„Das ist schön und die Feder ist praktisch. Es erklärt auch, warum die anderen Zwerge den Schmiedemeister nicht besonders mochten. Feen haben keinen guten Ruf unter meinesgleichen.“, erklärte der Postzwerg den Kindern.

Elisa schnappte sich die graublaue Feder und steckte sie sich in die lockigen Haare. Sie flüsterte etwas von schweben, hüpfte kurz und blieb einfach zwei Hand hoch in der Luft stehen. „Toll!“, entfuhr es Vanessa voller Erstaunen. Auch der Zwerg war überrascht und lächelte das kleine Mädchen an. „Du kannst den Zauber bestimmt auch beenden, wenn du dir das wünschst. Aber denk daran, dass man die Feder nur einmal am Tag benutzen kann.“, erinnerte er sie. Das Kind nickte und landete wieder sanft mit den Füßen auf dem Boden.

„Aber wie wollen wir die Schatzhöhle finden, Daril?“, wollte Vanessa wissen. „Welcher See und welches Tal sind in dem Brief gemeint?“ Der Zwerg dachte angestrengt nach. „Wir wohnen ja schon länger hier als die Menschen und Fargal lebte einst auch in der Nähe. Irgendwo, nicht sehr weit von hier, sollten wir die beschriebenen Orte finden.“, meinte er zuversichtlich. „Kennt ihr den See im Wald, an dem man vorbeikommt, wenn man von hier aus in das Nachbardorf fährt? Ich finde, das könnte der See im Westen sein.“, die Schwestern nickten und Vanessa sagte, dass sie im Sommer schon einmal dort mit den Eltern spazieren gewesen sei. „Dann sollten wir dort mit der Suche nach der Schatzhöhle beginnen, denke ich. Ich rede mit euren Eltern, vielleicht mag eure Mama mitkommen, wenn euer Vati schlecht zu Fuß ist.“

 

08. Vorbereitungen

 

Elisa legte alle Sachen sorgsam in die Schatulle zurück und ließ das Schloss zuschnappen. Nur die Taubenfeder steckte noch in ihrem lockigen Haar. Die kleine Truhe an die Brust gedrückt, eilte sie in die Stube, wo die Mutter der Mädchen ein Puzzle legte. Der Vater lag mit seinem verletzten Bein auf dem Sofa und las ein Buch. „Wir müssen diesen Schatz finden!“, sagte die jüngere Schwester voller Überzeugung zu ihren Eltern. Vanessa legte nach: „Mama, du musst mitkommen, weil doch jemand auf uns aufpassen muss!“ Der Vater legte sein Buch beiseite. „Geh ruhig mit. Ich komme schon zurecht. Den beiden tut die frische Luft draußen sicher gut.“, befürwortete er die Initiative der Kinder.

Der Zwerg hielt sich im Hintergrund und ließ die Mädchen mit ihren Eltern reden, bis die Mutter sich an ihn wandte. „Du als Zwerg möchtest der Sache bestimmt auch nachgehen. Immerhin stammt der ursprüngliche Besitzer der Truhe aus deinem Volk, Daril.“ Der stämmige bärtige Mann nickte. „Natürlich möchte ich gern herausfinden, was aus Meister Fargal geworden ist. Ich möchte eure Kinder nur keiner Gefahr aussetzen. Daher bitte ich dich ebenfalls, uns bei der Suche zu begleiten. Wir haben schon viele Informationen zusammengetragen.“, bestätigte er und fügte an: „Wir benötigen eine richtige Karte der Gegend, um die Orte zu bestimmen, die Fargal benannt hat. Der Riese sollte demnach östlich vom See zu finden sein.“ Die junge blonde Frau stand vom Sessel auf, um in den Nebenraum zu gehen. Dabei erklärte sie: „Schauen wir mal im Internet, was wir finden.“ Der Computer war bereits eingeschaltet.

Katja, das war ihr Name, setzte sich auf den Bürostuhl, der vor dem kleinen Tisch stand und schaute gebannt auf den Bildschirm, während sie tippte und klickte. „Hier, schaut. Hier ist unser Dorf. Dort, westlich von uns, befindet sich der See. Gehe ich vom See aus nach Osten, führt der Weg nördlich von hier vorbei und stößt dort auf die „Trollsteine“, wo einige Menschen gern klettern und wandern gehen. Da sollten wir nach dem Riesen suchen“, erklärte sie die Karte, die sie aufgerufen hatte. 

„Dann gehen wir jetzt wandern?“, fragte Elisa erwartungsvoll. Die Mutter antwortete lächelnd: „Ja, aber wir müssen noch einige Sachen einpacken, denn es wird etwas dauern, ehe wir wieder zurück sind. Holt eure Rucksäcke, Mädchen, dann packen wir.“ An den Zwerg gerichtet meinte sie: „Ein paar Kilometer müssen wir schon laufen, aber der Waldweg ist beliebt und lässt sich gut bewältigen. Wir nehmen ein paar Brote und Wasser in Flaschen mit, auch eine Decke für ein Picknick.“ Daril nickte zustimmend. „Ich trage gern etwas davon. Danke, dass du mitkommst, Katja.“ 

Vanessa trug den Rucksack mit der Verpflegung, Elisa hatte die Decke eingepackt, Daril trug die Getränke bei sich und Katja betätigte sich als Leiterin der kleinen Wandergesellschaft. Die Kinder verabschiedeten sich von ihrem Vater und Katja gab ihrem Mann noch einen Kuss, bevor sie gemeinsam mit dem Zwerg das Haus verließen. 

Erst folgten die vier dem Kopfsteinpflaster der alten Dorfstraße ein Stück, die zwar nach Westen führte, von der aber im späteren Verlauf ein Waldweg abzweigte, der sie zu den „Trollsteinen“ bringen sollte. Der Waldboden war etwas feucht vom gelegentlichen Regen der letzten Tage, dennoch war der Wanderweg fest genug, dass er sich gut begehen ließ.

Die Frühlingssonne strahlte nun am Vormittag etwas wärmer aus dem Himmel, sodass niemandem fröstelte. Die Kinder sausten den Pfad entlang, wirbelten altes Laub auf und tobten ausgelassen voran. Der Zwerg und die Menschenfrau folgten ihnen gemütlich. 

 

09. Der Steinriese

 

Der Spaziergang zog sich über gut zwei Stunden hin, aber die Mädchen wurden aufgrund ihrer Aufregung nicht müde und trieben allerlei Schabernack. Mal bewarfen sie ihre Mutter und den Postzwerg mit Laub oder sie füllten ihre hohle Hand mit Wasser aus dem Bach, der neben dem Weg entlang plätscherte und bespritzten sich gegenseitig. Als die Gruppe die „Trollsteine“ erreichten, breiteten Elisa und Vanessa die Decke aus, dann stärkten sich alle bei einem kleinen Picknick.

Als sie beisammen saßen, begann Daril zu erzählen: „Während wir hierher gewandert sind, habe ich nachgedacht und mir die Geschichte der ‚Trollsteine‘ ins Gedächtnis gerufen. Unter uns Zwergen erzählt man sich, dass hier im Wald einst wilde Bergtrolle gehaust hätten, die den Zwergen und Menschen der Gegend übel mitspielten. Sie verwüsteten Gärten und stahlen Tiere von den Bauernhöfen. Einige mutige Leute taten sich zusammen, um ihnen das schäbige Handwerk zu legen. Des Nachts lockten sie mit einer Kuh die Trolle aus ihrer Höhle und hielten sie zum Narren, bis der Tag graute. Mit den ersten Sonnenstrahlen erstarrten die Unholde zu Stein. Heute kennen wir sie noch als die ‚Trollsteine‘.“

Von dieser Geschichte wurde wieder die Neugierde der Kinder entfacht und sie schauten sich um, ob sie die steinernen Trolle in den Felsen erkennen konnten. Ihre Mutter und er Zwerg hielten ebenfalls die Augen offen. Einer der zahlreichen Felsen sah einem großen sitzenden Mann ähnlich, was man erst bei näherem Hinsehen feststellen konnte. Bei der Suche zwischen den Steinen fiel Vanessas Blick auf ein Loch in der Brust des steinernen Abbildes. „Das sieht aus, als ob da etwas fehlt!“, rief sie in Richtung der Erwachsenen. Elisa, Daril und Katja kamen eilig dazu und besahen sich die Stelle, auf die das Mädchen zeigte. In der Tat, dort könnte ein Kristall gut passen, war die gemeinsame Feststellung.

Doch wo sollte man so einen funkelnden Stein finden können? Elisa meldete sich zu Wort: „Die Höhle der Trolle muss doch in der Nähe sein, vielleicht ist der Kristall dort!“ Das war eine guter Idee. Die vier gingen vom Weg aus an den Felsen ostwärts vorbei und kamen nach kurzer Zeit an eine Felswand, in der, versteckt hinter einer dicken alten Eiche, ein breiter Gang ins Dunkel führte. Katja hatte auch an eine Taschenlampe gedacht und schaltete diese an, als sie die Trollhöhle betraten. Lauter alter Unrat lag herum. Eine kalte Feuerstelle und viele abgenagte Knochen befanden sich dort. Die junge Frau bat alle, stehenzubleiben, damit sie die Kammer einmal ausleuchten konnte. 

Neben einem länglichen Stein, der wohl als Sitz gedient haben könnte, lag ein zerschlissener Lederbeutel, den sie von Vanessa holen ließ. Im Schein der Lampe entwirrte das Mädchen die Schnüre, die den Beutel geschlossen hielten. Vorsichtig zog Elisa auf den Handflächen ihrer Schwester das Leder auseinander. „WOW!“, entfuhr es beiden Kindern gleichzeitig. „Ist der schön!“ Vanessa präsentierte im Schein der kleinen Funzel einen schimmernden roten Kristall. „Das muss das Herz des Steinriesen sein!“, entfuhr es dem Zwerg. Katja schlug vor: „Lasst uns sehen, ob der Stein in das Loch passt.“ Schnell verließen sie die gruselige Höhle und beeilten sich, wieder zu dem „Steinmann“ zu gelangen.

Elisa durfte den roten Kristall in das Loch setzen. Nur einen Moment später leuchtete er von allein auf und der „Steinmann“ regte sich. Er stellte sich auf seine Füße und hob den rechten Arm. Mit seinem Finger zeigte er in nordwestliche Richtung.

 

10. Die Sonne zeigt den Weg

 

Die Uhr am Handgelenk des Zwerges zeigte, dass es früher Nachmittag war, als Katja, die beiden Mädchen und er überlegten, ob sie dem Weg noch folgen sollten, den der magisch aktivierte Troll ihnen wies. Dem Brief Fargals zufolge, sollte sich der letzte Abschnitt des Weges bei Sonnenuntergang durch das Tal im Norden offenbaren. Noch hatten sie ausreichend Verpflegung dabei, um bis zum Abend auszukommen, aber was, wenn die Mädchen müde wurden oder etwas unvorhergesehenes passieren würde?

Sie würden sich zu helfen wissen, beschlossen die Frau und der Zwerg. Daril machte sich auf seinem Schreibblock einige Notizen und begann mit wenigen Strichen eine einfache Karte zu zeichnen. „Wenn in dieser Richtung das Tal liegt, dann weiß ich, wo wir hinmüssen. Vor dem Wasserfall gibt es einen Aussichtspunkt, den wir über die Wanderwege erreichen können.“, erzählte er den Menschen und erinnerte sich: „Vor Jahren war ich mit meinem Vater dort.“ 

Die Wanderung sollte nun fortgesetzt werden und die ungewöhnliche Gruppe begab sich wieder auf den Waldweg. Es ging ein Stück zurück, aber sie nahmen bald einen Abzweig, der sie nordwärts leitete. Der Pfand wand sich in vielen Kurven und ging leicht bergauf. Manche Stellen waren von Farnen und Ranken überwachsen, was sie stark verlangsamte. Sie schlugen sich gerade durch das Unterholz, um den Weg wiederzufinden, als es in ihrer Nähe plötzlich schnaubte und grollte. Offenbar hatten sie einen Bären aufgeschreckt, der ihnen zeigen wollte, dass ihm Menschen und Zwerge nicht willkommen sind. Wütend rannte das große Tier auf die Kinder zu, die sich ängstlich mit ihrer Mutter an einen Baum kauerten. Daril machte mit einen Stock Krach, um den Bären von ihnen abzulenken, was ihm tatsächlich gelang. Das Tier machte kehrt und nahm die Spur des kleinen Bartträgers auf. Als der Koloss den Zwerg beinah erreicht hatte, ließ Daril sich einfach fallen und rührte sich nicht mehr. Der Bär war verwirrt, schnupperte an dem Zweibeiner, verlor aber das Interesse an ihm und ging wieder seines Weges. 

Katja und die Kinder seufzten erleichtert und fragten vorsichtig nach dem Postzwerg. Daril rappelte sich auf, klopfte sich die Kleidung ab und schloss zu den dreien auf. „Das war aber knapp!“, entfuhr es Vanessa, der immer noch der Schrecken im Gesicht anzusehen war. Elisa sagte gar nichts, sah aber kreideweiß aus. Ihre Mutter nahm sie lieb in die Arme und drückte sie an sich. „Alles ist gut, mein Kind. Daril hat uns beschützt.“ Das Mädchen nickte und atmete einmal tief ein und aus, bevor sie ihre Mama losließ. „Danke Mama, danke Daril.“, sagte sie leise.

 

Etwas tippte ihr auf die Schulter. Elisa drehte sich um, weil sie dachte, ihre Schwester wäre es gewesen, aber die Taubenfeder schwebte vor ihren Augen. Sie musste ihr in dem Durcheinander aus dem Haar gefallen sein und wollte nicht vergessen werden. Elisa ergriff die Feder und steckte sie wieder in ihre dunkelblonden Locken.

Bald darauf fanden sie den Weg wieder, dessen Zustand sich immer mehr verbesserte. Die Uhr des Zwerges zeigte auf die fünfte Stunde, als sie die alte Aussichtsplattform gegenüber des Wasserfalls sahen. Es würde noch etwas dauern, ehe die Sonne unterging. Solange ruhten sie sich aus und aßen ein weiteres Mal von der mitgebrachten Verpflegung. 

Der sanfte Wind und das rauschende Wasser wirkten beruhigend auf die Kinder, dass sie beinahe einschliefen, aber als die Sonne sich anschickte, ihren Tageslauf zu beenden, weckten Katja und Daril beide auf. „Schaut mal!“, rief Elisa in die Sonne blinzelnd. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages wurden von dem Wasserfall reflektiert und südwärts gelenkt, geradewegs auf die Plattform zu und darüber hinaus.

Daril kritzelte schnell seine Beobachtungen in seinen Block, um alles festzuhalten.

„Wie kommen wir jetzt nach Hause, wo es doch jetzt dunkel wird?“, fragte Vanessa ängstlich. Als wäre das ihr Stichwort gewesen, entschlüpfte die Taubenfeder Elisas Haarpracht und tippte deren Schwester auf die Nase. „Ich dachte, die Feder kann man nur einmal am Tag benutzen.“, bemerkte die kleinere. „Vielleicht war das heute morgen nicht so viel, weil du sie ja nur ausprobiert hattest, Elisa.“, versuchte ihr die größere Schwester zu erklären und schnappte behutsam die Feder aus der Luft. „Dann soll die Feder uns nach Hause bringen.“, war Katjas Idee. Sie besprachen sich kurz und dann ging es los.

Vanessa hielt sie am Kiel fest und die anderen drei legten ihre rechte Hand auf die des Mädchens. Alle wünschten sich gleichzeitig: ‚Fliege uns nach Hause!‘ von der Taubenfeder. Langsam erhoben sie sich gemeinsam. Dem Zwerg wurde dabei etwas unwohl, aber er riss sich zusammen. Die Mädchen jauchzten ausgelassen und ihre Mutter grinste, als würde ein Kindheitstraum in Erfüllung gehen. Die Feder zog die Gruppe aufwärts und glitt dann mit ihr über die Bäume hinweg nach Süden, wo das Dorf lag.

Als sie vor dem Haus der Familie zu Boden schwebten, schüttelten sich alle, da ihnen der Arm vom Festhalten steif geworden war. Daril verabschiedete sich von den drei Menschen, nachdem sie sich für den folgenden Tag verabredet hatten, um die Suche fortzusetzen.

 

11. Ein Baum, alt wie die Zeit

 

Der Postzwerg begab sich in seine Wohnhöhle im Nachbarort und schlief schnell ein, als er im Bett lag. Sein Wecker holte ihn um acht Uhr aus seinen Träumen. Daril kochte sich einen Tee und frühstückte, bevor diesmal seinen Posttragekorb packte, da dieser dem Zwerg seiner magischen Natur wegen nützlicher erschien. Er packte sich auch heute etwas Verpflegung zusammen und legte noch einige andere praktische Dinge in die Kiepe.

Dann machte er sich wieder auf zu den Kindern, um mit ihnen das Geheimnis um den Schatz des zwergischen Kunstschmiedes zu lösen.

Es war fast halb zehn, als Daril vor der Tür des Fachwerkhauses stand, in dem die Familie wohnte. Gerade wollte er die Klingel betätigen, aber die Tür sprang auf und Elisa begrüßte den Zwerg stürmisch mit einer Umarmung. „Daril, ich habe gar nicht geschlafen! Ich will den Schatz finden!“, plauderte sie fröhlich drauf los. Vanessa und Katja erschienen am Eingang, die Rucksäcke waren bereits gepackt und alle marschbereit.

Daril kramte seinen Block hervor und ging seine Aufzeichnungen durch.

„Der letzte Sonnenstrahl, der von dem Wasserfall auf den Aussichtspunkt reflektiert wurde, zeigt nach Süden. Laut Fargals Brief finden wir dort den ‚ältesten Baum‘.“

Sie entschlossen sich, heute die gepflasterte Straße hinunter zu laufen. Etwas außerhalb des Dorfes führte ein Weg in den „Blaubeerforst“ hinein. Dort konnte man im späten Sommer viele Heidelbeeren finden, was dem Wäldchen den Namen eingebracht hatte.

Der Boden dieses Waldstücks war von den niedrigen Büschen fast gänzlich bedeckt. Nadel- und Laubbäume wechselten einander ab und tauchten die Umgebung in angenehmes Licht. Hindurch führte ein Rundpfad zum Waldsee und wieder zur Siedlung zurück. Die Mitte des Gehölzes markierte ein großer, alter Baum. Es dauerte nicht lange, bis Elisa, Vanessa, Katja und Daril die Stelle erreicht hatten. Bei näherem Hinsehen fiel Katja auf, dass es sich gar nicht um nur einen Baum handelte, sondern dass zwei Bäume ineinander verwachsen waren. Das Ungewöhnlichste daran war, dass es sich um eine Eiche und eine Rottanne handelte, die sich gegenseitig umschlangen. Den gemeinsamen Stamm der alten Bäume konnten sie auch zu viert nicht umfassen, so dick war er und so alt war dieses Naturwunder auch. 

„Hier ist etwas!“, machte Katja die anderen aufmerksam und zeigte auf den Waldboden direkt am Stamm der Eiche. Dort war ein glatter Stein eingegraben worden, auf dem ein zwergisches „F“ prangte. Konnte das Fargals Hinweis sein? Die Mädchen freuten sich über den Fund und spekulierten über dessen Bedeutung.

„Ist das Fargals Grab?“ „Finden wir hier den Eingang zur Schatzhöhle?“, fragten sie, aber weder Daril noch ihre Mutter konnten das beantworten.

„Ich schaue mal, ob wir etwas unter dem Stein finden können.“, sagte der Zwerg voller Eifer. Aus der Hucke schwebte eine Spitzhacke, womit Zwerge auch in den Minen arbeiteten. Daril suchte sich einen dicken Stock, den er unter die Hacke klemmte, um den markierten Stein auszuhebeln. Tatsächlich bot sich den Schatzsuchern ein überraschender Anblick: Eine schmale Treppe führte unter die Bäume!

 

12. Die Baumhöhle

 

Das konnte nicht die Schatzhöhle sein, wohin die Stufen führen würden, aber was hatte Fargal damit dann beabsichtigt? Weder Katja noch Daril passten durch den schmalen Gang, aber die Mädchen waren klein genug, um das Ende der Treppe zu erreichen. Sie beratschlagten, was sie nun tun wollten. 

„Vanessa und ich können ja hinunter gehen und uns umsehen.“, schlug Elisa vor. Ihre Schwester stimmte ihr zu. „Nun gut. Vanessa bekommt von mir die Taschenlampe, damit ihr dort unten genug seht.“, gab sich die Mutter geschlagen. Aus Darils Tragekorb schwebte derweil ein dünnes, glitzerndes Seil. „Das ist Elfenseil, das scheuert nicht. Das lege ich euch um, damit ihr gesichert seid. Wenn ihr wieder zurück wollt, dann zieht zweimal daran, dann hole ich das Seil ein und ihr findet den Weg zu uns.“, erklärte er. Damit waren alle einverstanden.

Nachdem beide Mädchen eine Schlaufe des Elfenseiles um ihre Hüften geknotet bekommen hatten, wagten sie den Abstieg unter die Baumriesen. Vanessa ging mit der Taschenlampe voran, ihre Schwester folgte ihr neugierigen Blickes. „Seid ja vorsichtig!“, gab ihre Mutter ihnen noch mit auf den Weg.

Umgeben vom Wurzelwerk der alten Bäume traten die Kinder in das Zwielicht hinein in einen kuppelförmigen Raum, dessen Boden aus festgestampfter Erde bestand. Genau in der Mitte ragte ein steinernes Podest in die Höhe auf dem eine dünne Keramikplatte lag. Auf ihr war eine Karte gezeichnet, die Fargals Brief verblüffend ähnelte, der Text aber fehlte und stattdessen gab es in der Mitte ein dickes Kreuz. Elisa nahm die Kachel an sich und forderte ihre Schwester auf, wieder nach oben zu gehen. 

Rumpelnd verschwand das Podest im Boden des seltsamen Raumes und ehe noch irgendetwas anderes passieren konnte, hatte Vanessa zweimal an dem dünnen Seil gezogen, damit Daril ihnen beim Rückweg behilflich sein konnte. Tatsächlich rumpelte und krachte es einige Male mehr und der Hohlraum im Wurzelwerk fiel gerade in sich zusammen, als die Mädchen die letzte Stufe überwunden hatten. „Das war aber knapp. Was ist passiert, Kinder?“, fragte der Zwerg besorgt, aber Elisa hielt breit grinsend die bemalte Fliese in die Höhe.

Als der Boden unter ihnen sich beruhigt hatte und der flache Stein die Stufen wieder verdeckte, ließen die vier sich nieder um sich auszuruhen und etwas zu trinken. Dabei sahen sie sich gemeinsam die Karte auf der Kachel an. Elisa kramte die kleine Truhe aus ihrem Rucksack, öffnete sie und holte Fargals Brief heraus. Sie hatte Recht, die Bildchen in den Ecken des Briefes stimmten mit den Zeichnungen auf der Tonkachel überein. Die Karte war nur weitaus detailreicher als die Kritzeleien auf dem Papier.

Katja fiel etwas auf: „Seht, das sind die alten Wanderwege und dort ist die Straße, die durch das Dorf führt.“, sagte sie und zeichnete mit dem Zeigefinger die Linien nach. „Dort steht in etwa euer Haus.“, meinte der Zwerg und tippte auf die Kachel an der Stelle, wo die Straße nach links abbog. Nur knapp darüber befand sich das dicke Kreuz, das ihr Ziel markierte.

 

13. Eine erstaunliche Entdeckung

 

Da es erst um die Mittagszeit war, setzten die vier Schatzsucher ihre Wanderung westwärts in Richtung des Waldsees fort, denn diesen hatten sie noch nicht besucht. Die Mädchen ließen sich einfach nicht davon abbringen, alle Orte, die im Brief aufgezählt wurden, zu erkunden.

Gemächlich aber stetig bewältigten sie auch diese Strecke und standen etwa zwei Stunden später am Ufer des spiegelglatten Gewässers. Es ging kein Lüftchen und die Frühlingssonne wärmte den offenen Bereich schnell auf. Allerlei Getier schwirrte umher und zeigte wie lebendig der Wald in all seinen Facetten sein konnte.

Auf dem ruhigen Wasser spiegelte sich der Felsen, welcher das andere Ufer einnahm. Sein spitz zulaufender Gipfel zeigte geradewegs nach Osten, konnte Daril bestimmen. Was das aber mit dem Spiegelbild der Seele zu tun haben sollte, wurde ihm nicht klar.

Nach einer kurzen Stärkung wollten sie den Rückweg antreten, doch Katja blieb gedankenverloren am Ufer stehen und blickte ihr Abbild an. „Der See hat etwas magisches. Ich sah nicht mich, sondern die Gestalt einer Fee mit Flügeln.“, erzählte sie verwundert ihren Töchtern und dem Zwerg. Nun mussten die Mädchen auch ihre Spiegelungen anschauen und auch sie waren verzückt. „Ich sehe mich als Fee!“, riefen beide Kinder gleichzeitig. „Und ich sehe nur mich.“, brummte Daril vor sich hin und forderte die Menschen auf mitzukommen: „Wir sollten nach Hause kommen, ehe die Sonne untergeht.“

„Wir wissen nun, wo wir nach dem Schatz suchen müssen, da können wir doch auch mit der Feder hinfliegen!“, merkte Vanessa an und Elisa nickte dazu energisch. Ihre Mutter willigte ein und alle legten ihre linken Hände zusammen. Elisa hielt die Feder fest und schon erhoben sie sich in die Lüfte. Das Dorf kam schnell in Sicht und sie wurden alsbald sanft vor dem Fachwerkhaus abgesetzt.

 

14. Der Schatz

 

Da die Taubenfeder sie so schnell nach Hause gebracht hatte, blieb ihnen an diesem Sonntag noch viel Zeit, alle Hinweise zusammenzutragen und womöglich auch den Schatz des Schmiedemeisters zu finden. Alle Orte, die Elisa, Vanessa, ihre Mutter Katja und der Zwerg Daril aufgesucht hatten, stellten Besonderheiten in der Natur der Umgebung dar. Fargal hatte gewiss einen guten Grund, genau diese Flecken auszusuchen.

Das dicke Kreuz auf der kürzlich erbeuteten Karte markierte eine Stelle, die sich nicht weit von ihnen befand. Man brauchte nur ein Stück die Straße hinaufgehen und von dort rechts auf den Waldweg abbiegen, vorbei an der gruseligen alten Hütte. Die Markierung deutete auf eine Stelle hin, die links neben dem Pfad zu finden sein musste. Die vier Schatzsucher entschieden, zusammen nach dem Hort des alten Zwerges zu suchen und machten sich auf den Weg über das abgenutzte Kopfsteinpflaster der Straße.

Als sie die Waldhütte passierten, versuchten alle besonders leise zu sein. Einige Hühner scharrten gackernd auf dem umzäunten Hof, aber im Haus schien sich nichts zu rühren. Erleichtert atmeten die Kinder aus, als sie sich von dem Haus entfernt hatten. Der Pfad machte eine leichte Biegung nach rechts, als Katja meinte, dass sich die Stelle auf der Karte in der Nähe befinden müsse. „Dort sollten wir den Boden absuchen.“, sagte sie und zeigte auf einen knorrigen alten Baum, der unweit des Weges stand. Durch all das Laub, die Farne und Sträucher war das keine einfache Aufgabe, bis Vanessa ein Fleck auffiel, der nicht bewachsen war und sich direkt vor dem alten Baum befand. 

Das alte Laub durchwühlte sie mit Händen und Füßen. Ihre Schwester half ihr dabei. Eine große Steinplatte kam dadurch zum Vorschein, deren Ausmaße denen einer Tür nahekamen. In der Mitte der Platte waren zwei Zwergenrunen eingelassen, ein „F“ und ein „S“, sowie eine ovale Vertiefung, die an das Medaillon erinnerte. Elisa winkte ihre Mutter und den Postzwerg heran, bevor sie die kleine Truhe aus ihrem Rucksack zog. Sie öffnete die Kiste und holte das Schmuckstück heraus. „Zeig mir den Weg!“, beschwor sie das Amulett, als sie es in die Aushöhlung drückte. Alle vier schauten erwartungsvoll auf den Stein und das Amulett. Es dauerte einige Augenblicke bis sich etwas tat. Der Anhänger erglomm in grünem Schein, bis das Licht in Adern das Gestein zu durchziehen begann und mit Knacken und Scharren die Platte wie eine Rampe nach unten glitt. Verblüfft fielen ihre Blicke in den Schacht, der sich vor ihnen geöffnet hatte. „Potzblitz!“, entfuhr es Elisa. 

Katja holte die Taschenlampe aus ihrer Tasche und gab sie Daril, der vorausgehen sollte. Vanessa nahm das Medaillon wieder auf. „Wartet! Es ist aufgegangen!“, rief sie den Anderen hinterher. Elisa war zuerst wieder bei ihrer Schwester und klappte das Schmuckstück auf. Ein goldig metallener kleiner Schlüssel lag darin, den das Kind verblüfft anstarrte. „Wollen wir herausfinden, wo der passt? Dann los!“, forderte der Zwerg die Kinder auf.

Der Gang war alt, staubig und aus Feldsteinen gemauert. Er zog sich hin, bis eine schwere Holztür den weiteren Weg versperrte. An der gewohnten Stelle fand man weder eine Klinke noch ein Schlüsselloch, aber auf der Pforte prangte ein kunstvolles Bronzeschild. Bei näherer Betrachtung stellte Katja fest, dass man die Scheibe in der Mitte des Schildes beiseite schieben konnte. Darunter erschien ein Loch, in das der kleine Schlüssel passen konnte. Elisa steckte ihn dort hinein und drehte gegen den Uhrzeigersinn, weil Daril erklärt hatte, dass Zwerge Schlösser genau andersherum bauten als die Menschen. Das Klacken von Riegeln und Zahnrädern ertönte. Mit dem Verstummen der Mechanik schwang die schwere Tür auf. 

Der runde Raum war vollgestellt mit Metallgegenständen. Wie von Zauberhand leuchteten die aufgehangenen Laternen auf. Kannen, Teller, Skulpturen und vieles mehr standen durcheinander herum.

 

15. Tee und Kuchen

 

Daril schaltete die Lampe aus und schaute sich neugierig den Schatz an.

„Das müssen alles Dinge sein, die Fargal einmal hergestellt hat. Wahrlich bedeutsam!“, flüsterte er ergriffen. Die Mädchen freuten sich über ihren Erfolg, alle Geheimnisse enträtselt zu haben und behängten sich mit Schmuck aus der Hand des Kunstschmiedes. Auch Katja bestaunte die schönen Sachen.

Unbemerkt von den Schatzsuchern schob sich gegenüber der Eichentür die Wand auf.

„Besucher in meinem Keller!“, dröhnte eine strenge aber belustigte Stimme durch das Gewölbe. Halb lachend fuhr der graubärtige Zwerg fort: „Ihr habt also meinen Schatz gefunden. Ich beglückwünsche euch.“ Erschrocken ließen Elisa und Vanessa die Schmuckstücke aus ihren Händen fallen, Katja stolperte und fing sich direkt wieder, Daril fiel vor Schreck auf seinen Hintern.

„Meister Fargal? Seid Ihr es wirklich?“, fragte der Postzwerg verdutzt. Der ältere Zwerg nickte langsam und antwortete: „Ja, wer denn sonst! So schnell hatte euch aber nicht hier erwartet. Steh auf, Daril. Kommt Kinder und nehmt eure Mutter mit, Yara wartet mit dem Tee auf uns.“, forderte er die Gruppe auf, ihm zu folgen. Mit fragenden Blicken gingen sie dem Alten hinterher, die Treppe hinauf. Er führte sie in die Küche, wo er sie Platz nehmen ließ. 

Eine schlanke Gestalt mit schillernden Flügeln schnitt gerade einen Blechkuchen in gleichmäßige Stücke, die sie auf sechs Tellerchen verteilte. Fargal nahm sie entgegen und verteilte sie auf die Sitzplätze. Tassen stellte er ebenfalls auf den Tisch, aber Vanessa teilte diese aus. Elisa legte an jeden Platz einen kleinen Löffel dazu. „Ich bin Yara, liebe Freunde. Es ist schön, euch endlich hier zu haben.“, sagte sie und stellte noch ein Kännchen voll Milch auf den Tisch. Der frische Kuchen duftete köstlich fruchtig und süß, die goldbraunen Streusel sahen verführerisch aus. „Langt nur zu. Während ihr esst, erklären Yara und ich euch alles.“, redete Fargal ihnen gut zu.

 

16. Das Beste kommt zum Schluss!

 

Yara begann: „Früher lebte ich mit meinesgleichen am Waldsee. Damals streifte und flog ich oft und gerne durch die umliegenden Wälder. Der Wasserfall war einer meiner liebsten Orte. Eines Abends bewunderte ich wie so oft den einzigartig schönen Sonnenuntergang dort, schlief dann aber ein und erwachte erschrocken, weil ich von Baum gefallen war, auf dem ich gesessen hatte. Ich hatte mir ein Bein gebrochen und den linken Flügel angeknackst und konnte nicht aufstehen. So fand Fargal mich, der mich tapfer zurück nach Hause trug.“ Yara schaute den dicklichen Zwerg verliebt an. „Von da an sahen wir uns öfter und trafen uns an allen möglichen Orten, wie auch an den ‚Trollsteinen‘ und den beiden verwachsenen Bäumen im ‚Blaubeerforst‘. Den anderen Zwergen war meine neue Bekanntschaft gar nicht recht. Sie machten sich darüber lustig und mieden mich immer mehr. Ich zog mich immer mehr zurück, bis ich im Geheimen dieses Haus baute. Mit der Zeit vergaß mich mein Volk.“, berichtete er weiter. Die Fee fuhr fort: „Aus unserer Freundschaft entwickelte sich bald Liebe und Fargal lud mich ein, bei ihm in diesem Haus zu wohnen. Da die Waldelfen meine Beziehung zu ihm auch nicht guthießen, willigte ich ein. Seitdem leben wir hier am Waldrand.“ 

Yara hatte die kleine Sanduhr kaum aus den Augen gelassen, als sie erzählt hatte. Nun stand sie auf und goss den fertigen Tee durch ein Sieb in eine dickbäuchige violette Kanne aus Keramik, die sie auf den Tisch stellte. Das heiße Getränk verströmte einen milden Duft von Kräutern und Früchten. Vanessa und Elisa hielten die Tassen ihrer Mutter entgegen, die sie befüllte. Auch an die anderen Anwesenden verteilte sie den Trunk.

Daril meldete sich zu Wort: „Das ist eine rührende Geschichte. Doch was hat das alles mit uns zu tun? Woher wusstet ihr von uns?“ Fargal lachte laut auf und machte Anstalten, eine Erklärung abzugeben, die ihm wohl nur schwer über die Lippen ging. Yara stupste ihn an und er fasste sich ein Herz. „Ich hatte dich vor ein paar Tagen gesehen, wie du bei uns die Post eingeworfen hast. Yara bekam mit, wie freundlich du zu den Leuten im Dorf bist und wir beschlossen, dich zu belohnen. Den Nachbarskindern wollten wir auch eine Freude machen, zumal wir von Elisas Geburtstag erfahren hatten. Als du auf unserem Hof warst, hatte Yara dir die Truhe in die Kiepe gelegt.“, gestand der Kunstschmied. 

Katja lächelte. „Also habt ihr uns dieses Abenteuer als Geschenk beschert. Nun möchte ich aber wissen, warum meine Töchter und ich uns im Wasserspiegel des Waldsees als Feen sahen. Das war eine sehr magische Erfahrung.“ Wieder sprach Yara und beantwortete die Frage. „Um den See herum haben früher die Waldfeen gelebt, auch ich, wie ihr schon wisst. Wir fühlen uns zu magischen Orten hingezogen und verweilen dort gern. Das Wasser des Sees zeigt dem Betrachter seine Seele. Ich glaube, jemand von euren Vorfahren könnte eine Fee gewesen sein.“

Auch Elisa hatte eine Frage. „Wie konntet ihr wissen, dass wir in eurem Keller sind?“, wollte sie wissen. Fargal schnippte mit dem Finger, woraufhin sich die Taubenfeder aus den Locken des Mädchens löste und in die Hand des Zwerges schwebte. „Die Feder und Yara sind magisch verbunden, so konnten wir herausfinden, wo ihr euch befindet. Ich weiß, dass man niemanden ausspionieren darf, doch wussten wir uns nicht anders zu helfen. Über die Zeit hatten wir sehr oft Ablehnung erfahren und wir wussten nicht, wie wir sonst in Kontakt mit den netten Nachbarn und dem lieben Postboten treten sollten.“

Die Kinder umarmten spontan die Fee und den alten Zwerg. „Das mit der Suche war eine tolle Idee!“, bedankte Elisa sich bei den beiden. „Wir hatten viel Spaß und viel Bewegung draußen. Das tat sehr gut.“, bestätigte Katja. Vanessa meinte: „Die magischen Sachen fand ich umwerfend!“ Daril erhob sich vom Stuhl und verbeugte sich vor dem Paar. „Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Meister Fargal. Ich bin erfreut, dass ihr meine Arbeit zu würdigen wisst.“, bedankte er sich.

Yara lud alle ein, am nächsten Sonntag wieder zu Tee und Kuchen vorbeizukommen. Fargal nahm die Schatzsucher noch einmal mit in den Hort und ermunterte sie, sich eines seiner Kunstwerke als Belohnung mitzunehmen. Eine feine Kette mit einem silbernen Anhänger war Katjas Wahl. Vanessa entschied sich für eine kleine Schatulle aus Bronze, die eine hübsche Gravur aufwies. Daril nahm sich einen Trinkbecher, der Abbildungen von Trollen trug. Elisa aber, nahm den alten Zwerg nochmals in den Arm. „Ich nehme den Sonntagskuchen!“, tat sie fröhlich kund.

Yara und Fargal winkten ihren neuen Freunden von der Tür der Waldhütte her, als diese den Hof durch das Gartentor verließen. Am Haus der Familie angekommen, verabschiedete sich der Postzwerg von Katja und den Kindern. Am Dienstag würde er wieder da sein und ihnen die Post bringen. Dann trennten sich ihre Wege und Daril machte sich auf nach Hause in seine Wohnhöhle.

 

- ENDE -

 

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