01. Von Geistern und Magie

Artwork by Zekron
Seraphina, vom Volk der Eserja

 

Ihre fast kniehohen Stiefel aus weichem dunklem Leder betonten die schmalen Waden der hochgewachsenen Frau. Dabei wirkte das Schuhwerk ebenso robust wie anschmiegsam. Die Schnürung hob sich optisch durch eine rotbraune Kordel vom samtigen schwarzen Leder des Schaftes ab, was einen angenehmen Kontrast bildete. Die weichen Sohlen gaben der schlanken Frau besten Halt in jeder Lage. Bei jedem ihrer federnden Schritte schwang ihr violetter Umhang knapp über dem glatten Untergrund hin und her. Das lange weißblonde Haar lag locker auf ihren Schultern und gab jede ihrer Bewegungen wieder.

Lautlos durchschritt sie den von Sternen beleuchteten Saal, um ein Podest zu erreichen, auf dem ein bläulich schimmernder Foliant lag.

Die Frau beugte sich nach vorn, damit sie die Schrift in dem Zauberbuch besser lesen konnte. Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie angestrengt die altertümlichen Zeichen entzifferte. Ihre Lippen bewegten sich dabei, als würde sie laut vorlesen wollen.

„Seraphina.“, erklang ruhig die anklagende Stimme des Wächters. „Ich sagte Euch bereits, dass Ihr ohne Anmeldung Eure Studien nicht fortsetzen dürft!“ Die junge Frau fuhr erschrocken aus ihrer Konzentration hoch. „Ich musste dringend eine Überlegung prüfen. Ihr wisst, dass ich am nächsten Drachenrennen teilnehmen möchte. Die Zeit drängt, Meister!“, verteidigte sie ihr Eindringen in diesen Raum der multidimensionalen Bibliothek. Der Wächter blieb unnachgiebig: „Geht. Wenn ich Euch nur noch ein weiteres Mal hier auffinde, ohne dass Ihr angemeldet wart, erteile ich Euch ewiges Hausverbot!“ Die Ertappte seufzte niedergeschlagen und verließ die Sphäre mit trauriger Miene. Ihre Anmut litt darunter aber keineswegs.

 

Als sie den Hauptkorridor betrat, beschleunigte Seraphina ihren Schritt und strebte dem Ausgang entgegen. Vor dem filigranen Tor, das halb von Ranken bewachsen war, zog sie eine kleine Flöte hervor und spielte eine kurze Melodie aus fünf Tönen. Daraufhin waberte die Luft vor ihr, in der sich ein violett geschupptes Geschöpf manifestierte. „Bring uns in den Lichterwald, Astralfeder. Ich muss nachdenken.“, wies sie den halb durchsichtigen Drachen an und setzte sich auf dessen langen Rücken. Das große Wesen schnaubte kurz, stieg mit seiner Reiterin einige Schritt hoch auf, nur um dann langsam abwärts zu gleiten, weg von der weißen Felswand, in der sich der Zugang zur Bibliothek der Eserja befand. Das grüne Blätterdach des Waldes kam näher, der unwirklich scheinende Drache setzte sanft zur Landung an.

 

Das bläuliche Gras wuchs dicht zwischen den Bäumen, deren gelbe Früchte ein sanftes Licht von sich gaben. An einem kleinen Wasserlauf hielt Astralfeder an und Seraphina glitt von ihrem Rücken auf den weichen Rasen. Die Frau streichelte gedankenverloren die Schnauze des magischen Geschöpfes, das kurz darauf im Nichts verschwand.

Sie hing weiter ihren Gedanken nach und lauschte dem Plätschern des Baches, während sie im Gras liegend in die Wolken starrte.

‚Ich muss Astralfeder in unserer Welt stabilisieren, sonst kann ich das Rennen vergessen. Andere hatten das doch mit ihren Drachen auch schon einmal geschafft.‘, überlegte sie angestrengt. Missgelaunt kaute die junge Frau an einem Grashalm. „Dann muss ich mich eben anmelden, sonst kann ich die Bibliothek nie mehr betreten.“, beschloss sie nach einiger Zeit des Schweigens. Seraphina erhob sich, zog ihren Dolch aus der Scheide rechts am Gürtel und warf ihn in die Höhe. In der linken Hand landete eine der Baumfrüchte, deren Licht allmählich verblasste. Mit der rechten fing sie die Waffe gekonnt am Griff und steckte sie wieder weg.

 

Geschmeidig setzte sie sich in Bewegung, gelangte an einen ausgetretenen Pfad und folgte ihm zu einem kleinen Gebäude, dessen Eckpfeiler vier der Bäume bildeten. Die Äste und das Laub formten die Wände der Behausung. Ein einfacher Tisch dominierte den Raum, mehrere Schränkchen säumten die Wände. Kaum hatte Seraphina ihr Heim betreten, verschloss sich der Eingang hinter ihr. „Illuminat!“, sprach sie, woraufhin eine Lichtkugel in ihrer rechten Hand entstand, die aufwärts schwebte und die Umgebung erhellte. Aus der Schublade eines der Schränkchen kramte die Eserja ein Papyrus und Schreibzeug hervor, setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Mit klaren, geschwungenen Linien formulierte sie eine Anfrage an die multidimensionale Bibliothek, im Folianten der Drachen lesen zu dürfen. Der heutige illegale Versuch hatte ihr nur wenig genutzt und Notizen hatte sie keine anfertigen können.

Nun wollte sie es nochmals auf offiziellem Wege versuchen, das Wissen zu erlangen, auf das sie so erpicht war.

Sie faltete das Schriftstück abschließend und verließ damit die Hütte, um den Brief in einen Kasten einzulegen, der sich vor dem Zugang befand. Eine gelbe Fontäne aus Licht, die dem Holzkasten entsprang, signalisierte ihr, dass das Schreiben übermittelt wurde.

 

„Ich weiß, dass du ungeduldig bist, Kind. Es ändert aber nichts an den Regeln unserer Gesellschaft.“, manifestierte sich die Stimme ihrer Mutter in Seraphinas Gedanken. Im Inneren der Behausung schimmerte violett eine menschlich wirkende Gestalt und lächelte die schlanke Frau liebevoll an. Seraphina schaute die ätherische Erscheinung ihrer verstorbenen Mutter traurig an. „Du kannst mir nicht helfen, Pangora. Mein Drache kann immer noch nicht länger als drei Glockenschläge stofflich bleiben und das große Rennen liegt nicht mehr fern. Ich brauche das Wissen aus dem Buch so schnell wie nur möglich.“, sprach sie resigniert mit einer Spur von Wut. Der Geist Pangoras schloss ihre Tochter in die immateriellen Arme, die junge Frau erwiderte die Geste und atmete erleichtert durch. Eine Träne löste sich aus ihrem linken Auge und rann die Wange herunter. „Danke, Mutter.“, entgegnete sie mit neuem Mut. Der Geist verflüchtigte sich und der Blick der Eserja verharrte auf jener Stelle noch eine Weile.

Mit müder Miene schnürte sie ihre Stiefel auf, die sie dann neben dem Eingang abstellte. Auch den Gürtel und ihren Umhang legte sie ab, bevor sie sich am nahen Bach waschen ging.

Die größere der beiden Sonnen Aethyrias war bereits untergegangen, in Kürze würde der kleinere Bruder sich für die Nacht verabschieden und den Sternen den Platz am Himmel überlassen. Im Lichterwald wurde es aber nie dunkel, denn die Pflanzen sammelten am Tage das Licht und verströmten es wieder, sobald es dunkel wurde. Bei vielen glommen die Blätter in grünen und blauen Farbtönen. Die Rinde mancher Bäume war von leuchtenden Maserungen durchzogen, die eisblaues, weißes oder gelbes Licht aussandten. Leuchtende Früchte, die Nachttiere anlockten waren auch keine Seltenheit, meist schmeckten diese auch sehr gut.

Seraphina bewunderte wie so oft ihre Heimat, an der ihr Herz hing. Genauso sehr sehnte sie sich aber danach, die Welt zu erkunden und mit Astralfeder durch die Lüfte zu sausen.

Ein wenig traurig, aber zuversichtlich ging sie zurück ins Haus, um sich schlafen zu legen.

 

Während Seraphina die Nacht zur Erholung nutzte, verhielten sich andere Gestalten umso aktiver. In den Kammern der multidimensionalen Bibliothek herrschte noch reges Treiben, denn dieser Ort stand allen Eserja zu jeder Tageszeit offen, nur wenige besondere Werke bedurften einer Anmeldung.

Am Tisch eines der Studierzimmer saß jemand, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, aber ein ergrauter Bart schaute unter der weiten Kapuze hervor. Der Mann machte sich Notizen, die er einem schön eingebunden Buch entnahm, das auf dem Buchdeckel von einem ovalen violetten Kristall geziert war. Xander kannte die Abhandlung bereits, aus der er einige Passagen kopierte, was ihn seine Arbeit zügig erledigen ließ.

 

Die magischen Drachen, die zu wichtigen Begleitern seines Volkes geworden waren, lebten in der Astralebene, welche die Eserja bei ihren Forschungen erkundet hatten. Die intelligenten Wesen verband eine tiefe Freundschaft mit den Menschen und nur solche, die einen Reiter angenommen hatten, konnten von ihren menschlichen Freunden in die stoffliche Welt beschworen werden. Der Vorgang des Beschwörungsrituals war im Folianten der Drachen detailgenau beschrieben. Ein kurzzeitiges Herbeirufen war leicht zu erlernen, eine dauerhafte Bindung an die stoffliche Welt war dagegen ein schwierigeres Unterfangen.

Der erfahrene Magier wollte die Verbindung zu seinem Drachen Schattenflamme festigen, weshalb er sich noch einmal eingehender mit den Erkenntnissen seiner spezialisierten Kollegen befasste. Schließlich sollte es nicht passieren, dass sein Freund während eines gemeinsamen Fluges plötzlich verschwand. Schattenflamme konnte bereits mehr als zehn Glockenschläge lang auf Aethyria verbringen, ehe er in seine Dimension zurückkehrte. Das zu verbessern war nun Xanders Ziel.

Als Mitglied des Standes der Gelehrten hatte er ungehinderten Zutritt innerhalb der Bibliothek und konnte so jederzeit jeden der großen Folianten aufsuchen und seine Forschungen fortführen. Er musste sich nur an die gebuchten Zeiten der Mitmenschen halten, damit diese ihr Recht wahrnehmen konnten. Am Zugang der Sphäre des Folianten der Drachen leuchtete das Fach für die Anfragen gelb, was bedeutete, dass jemand um die Nutzung des Buches bat. Der Gelehrte war neugierig, wer denn in diesem wichtigen Buch zu lesen gedachte und nutzte seinen Status, um die Nachricht aus dem Kasten zu entnehmen. Er überflog interessiert das beschriebene Papyrus und lächelte in seinen dichten Bart hinein. Die Nachricht legte er in den Kasten zurück, denn er kannte die junge Bittstellerin.

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